Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
einzige Lösung, der einzige Weg, am Leben zu bleiben, denn sterben durfte sie nicht. Sie hatte kein Recht, ihrem Kind sein Leben zu nehmen. Sie konnte ihnen allen nie wieder unter die Augen treten, am wenigsten Anavera, der sie ihre Liebe zerstört hatte und die jetzt versuchte sich zu rächen. Mit dem Verrat, den sie an Tomás verübt hatte, durfte sie nicht hierbleiben, nicht einmal, wenn sie es gewollt hätte. Ohne Jaime aber hatte sie auch keinen Grund mehr zu bleiben. Sie würde mit Therese Gruber nach Tirol gehen. Vielleicht wäre das von Anfang an das Beste gewesen. Sie sah nicht aus wie eine Mexikanerin. Sie trug ein Erbe in sich, das unter den Menschen, die ihre Freunde und Verwandten sein wollten, immer fremd bleiben würde.
»Bist du dir sicher, Josefa?«
Josefa nickte und kämpfte gegen den Druck in ihrer Kehle. »Du bist sehr lieb, Dolores, aber ich kann nicht anders.«
»Ich bin nicht lieb«, sagte Dolores, »ich mag dich gern, du dummes Ding. Und ich komme wieder, verlass dich darauf.« Damit ging sie.
Erleichtert zog Josefa den Rebozo und die Schachtel zu sich ins Bett und weinte, bis ihr die Augen brannten. Dann legte sie alles wieder ordentlich auf den Nachttisch und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um sich einigermaßen zu Verstand zu bringen. Sie kämmte sich das Haar, zog ein sauberes Nachthemd und ihren Morgenrock an und kniff sich in die Wangen, so dass sie ein wenig Farbe annahmen. Dann rief sie nach Franziska.
Die kam mit hochrotem, mehlverschmiertem Gesicht und einem Teller voll merkwürdig riechendem Gebäck. »Ich habe dir Pinzen gebacken!«, rief sie. »Die Gruberin würde dafür durchs Feuer gehen, also dachte ich mir, vielleicht magst du sie auch und wir bekommen endlich ein bisschen Speck auf deine Rippen. Obwohl das Naschwerk, das ihr hier habt, viel besser schmeckt, wenn du mich fragst.«
Franziska kommt ja mit nach Tirol, durchfuhr es Josefa, und sie fühlte sich nicht mehr so völlig allein. »Ich werde mir Mühe geben«, sagte sie. »Tust du mir bitte noch einen Gefallen, Franziska? Könntest du die Tante bitten, kurz zu mir zu kommen? Ich müsste sie in einer wichtigen Sache sprechen.«
»Sie wird vor Freude ein Tänzchen aufführen!«, rief Franziska. »Wenn ich mit der Nachricht komme, ist sie vielleicht sogar einmal nett zu mir.«
»Sie schlägt dich doch nicht mehr?«, rief Josefa erschrocken. »Du musst es mir sagen. Wenn sie dich schlägt, will ich sie nicht mehr in meiner Wohnung haben.«
»Nein«, sagte Franziska nachdenklich. »Sie tut’s nicht mehr. Aber wenn sie’s täte, wär’s ja halb so wild. Wirf sie nicht aus deiner Wohnung, ich bitte dich. Jetzt, wo ich dich getroffen habe und Dolores, versteh ich sie sogar. Sie ist so allein. Ich glaub, wenn’s einem so übel ergeht wie der Gruberin, dann muss man einfach einem andern ein paar Ohrfeigen geben, damit es einem nicht allein so übel ergeht. Und von den paar Ohrfeigen wird man ja nicht krank wie vom Alleinsein, stimmt’s?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Josefa. »Mir hat nie jemand Ohrfeigen gegeben.«
»Wirklich nicht?«, fragte Franziska ungläubig. »Nie?«
»Doch, einmal. Meine Großmutter, als ich acht Jahre alt war.«
»Und warum?«
»Weil ich zu ihr gesagt habe, mein Vater ist ein Kaiser und ich bin eigentlich eine Prinzessin und müsste in einem Kaiserschloss leben, nicht in einem Pferdestall.« Sie hatte es nie jemandem erzählt, so sehr hatte sie sich geschämt.
Franziska aber lachte laut los und warf die Arme um sie. »Das stimmt ja auch!«, rief sie. »Der Bruder von der Gruberin war zwar ganz bestimmt kein Kaiser, aber du bist mein auf Rosen gebettetes Prinzesschen. Und eine Großmutter, die hätte ich auch gern gehabt. Selbst wenn sie mir die Ohren langgezogen hätte.«
Wenn Josefa an Großmutter Ana dachte, fiel ihr immer nur ein, dass diese Anavera und Vicente mehr geliebt hatte als sie. Jetzt musste sie auf einmal daran denken, wie die Großmutter mit ihr in der Küche gesessen und ihr gezeigt hatte, wie man Mais verlas. Korn um Korn. Die uralte Hand bei der kleinen. Dabei hatte sie mit ihrer brüchigen Stimme ein Kinderlied gesungen, das »Spring, spring, spring, kleiner Gimpel« hieß, »deine Liebste kommt ja ins Nest«. Immer wieder von vorn, weil Josefa dieses eine Lied so sehr mochte.
»Sprichst du jetzt mit der Tante, Franziska?«, fragte Josefa, drückte sie an sich und ließ sie wieder los.
»Alles, was das Prinzesschen wünscht! Aber du – für dich bin
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