Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
anderen kein Haus bauen konnte. Sie hatten nur dies. Die Stunden von dreißig Nächten, um sich mit Worten und Schweigen zu lieben. In den Morgenstunden schliefen sie ein. Wenig später erwachte Anavera von dem Tappen, mit dem die Frauen vor den Häusern Tortillas flach klopften. Es war ein friedliches Geräusch, eines, das klang, als fände das Leben eines Tages in seine Ordnung zurück.
Im ersten Tageslicht kamen Männer, die Jaime zum Abholzen des Feldes holten und Anavera ein Frühstück aus Maisgrütze brachten. Sie hatte nichts zu tun, und niemand hinderte sie, zwischen den Hütten herumzulaufen oder den Frauen beim Maisschälen oder Hühnerrupfen zu helfen. Nur über den Saum des Dorfes, dorthin, wo die Felder lagen, durfte sie nicht.
Überraschend häufig suchte Iacinto Camay ihre Gesellschaft. »Du bist schön«, sagte er zu ihr. »Das weißt du, nicht wahr? Und du bist die Tochter eines bedeutenden Mannes, das sieht man deiner Haltung an. Du hättest die Auswahl unter den Männern deines Volkes. Warum wirfst du dich als Hure für einen Dzul weg?«
»Wohl weil ich es will.«
»Der Dzul heiratet dich nicht. Er macht dir einen dicken Bauch und geht zurück zu seinen blassen Weibern.«
»Ich weiß«, sagte Anavera und nahm einen Maiskolben zum Schälen aus dem Korb.
»Du sprichst nicht mit jedem, was? Hältst du mich für einen ungebildeten Bauern, der deiner Unterhaltung nicht wert ist?«
»Nein.«
»Warum behandelst du mich dann so von oben herab? Weil du glaubst, wir sind Bestien, die unschuldige Menschen quälen? Wir sind Männer, die für ihr bisschen Leben kämpfen, solange man sie noch lässt. Meinst du, wir wissen nicht, dass euer Präsident Soldaten schicken und Dörfer wie unseres dem Erdboden gleichmachen wird, sobald seine Macht auf sicheren Säulen steht? Wir werden einmal nichts haben, auf das unsere Söhne stolz sein können, als diese paar Jahre, in denen wir uns behauptet haben. Sind wir Bestien, weil wir uns daran festhalten?«
»Nein«, sagte Anavera und riss die feinen Häute von dem Kolben.
»Außerdem ist der Kerl, von dem du dich entehren lässt, alles, nur nicht unschuldig. Ich weiß, wer der ist. Auf seinem Land werden Menschen geschunden, bis sie ihren Peinigern tot vor die Füße fallen. Strafgefangene, Schuldknechte, denen der Jefe politico das letzte Hemd vom Leib gerissen hat. Der verdammte Dzul verdient alles, was er hier einstecken muss. Und tausendmal mehr.«
»Das weiß ich«, sagte Anavera und musste die Fäuste ballen, um den Schmerz auszuhalten. »Nein, er ist nicht unschuldig. Und Sie sind keine Bestien.«
»Ich könnte dich laufenlassen«, sagte Iacinto Camay.
»Ja, das könnten Sie.«
»Aber ohne den Dzul willst du nicht gehen?«
Anavera überlegte. Sie wollte gehen. Sie wollte leben. El Manzanal wiedersehen, ihre Freunde und Verwandten. Auf Aztatl in einen nebligen Morgen reiten und ihm hinterher einen Apfel zwischen seine samtigen Lippen schieben. Sie besaß Kraft genug, sich in eine Siedlung durchzuschlagen, wo Menschen ihr helfen würden, wo sie ihrem Vater eine Nachricht senden konnte. »Nein«, sagte sie. Es war Wahnsinn, aber sie hatten nichts als die Stunden von dreißig Nächten, von denen sieben schon ausgegeben waren.
Abends, wenn die Männer Jaime von der Arbeit zurückbrachten, durften sie zusammen essen, Pozole, Suppe aus Mais und ein wenig Huhn. Seine Hände blieben gefesselt, aber so, dass er den Löffel halten konnte. »Bitte sieh mir nicht zu«, sagte er.
Anavera setzte sich so hin, dass sie ihn beim Essen nicht sah. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und fragte: »Jaime, darf ich dir bitte doch zusehen?«
»Musst du?«
»Ich glaub.«
Als sie sich zu ihm zurückdrehte, hielt er den Kopf tief gesenkt. Sein Hemd hing in Fetzen, sein schwarzes Haar war grau vom Staub. »Ich bin zu feige dazu«, sagte er. »Ich bin es gewohnt, dass alle Welt mich einen schönen Mann nennt.«
»Ich habe dich nie so genannt«, entgegnete Anavera. »Und ich habe dich auch nie für einen schönen Mann gehalten. Also macht es nichts aus.«
Er hob den Kopf und lachte, ein wenig verlegen, ein wenig gekränkt, doch vor allem dankbar. »Du bist schön«, sagte er. »So wie Chichén Itzá. So, dass ich es mit meinen zu kleinen Augen nicht sehen konnte.«
»Deine Augen sind überhaupt nicht klein. Du hast nur die Vorhänge vorgezogen.« Mit einem Finger tippte sie an die zu langen Wimpern über seinem rechten Auge. Der Wärter sprang auf und schwang den
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