Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
sie schändet, ist es so, als wenn ihr eure eigenen Schwestern schänden würdet!«
Der Tatich gab ein Handzeichen, und seine Männer stürzten auf Jaime los. Mit den Fäusten schlugen sie ihn zu Boden und prügelten haltlos auf ihn ein. Ohne weiter darauf zu achten, trat der Tatich vor Anavera hin und sah ihr in die Augen. Sein Gesicht war so schmal wie sein Körper, seine Augen bitter, hungrig und verletzt. »Ich bin Iacinto Camay«, sprach er auf sie hinunter, »Hüter des Kreuzes und Herr dieses Dorfes. Mein Haus ist das beste in der Siedlung. Willst du mit mir in mein bequemes Haus gehen und gut zu essen bekommen?«
Anavera verstand seine Frage. Sie schüttelte den Kopf.
»Du bist dumm«, sagte Iacinto Camay. »Wärst du meine Tochter und gingst mit einem Dzul, ich würde dich ersäufen. Aber eine Frau, die mich nicht will, will ich auch nicht. Wir werden euch dreißig Tage geben, in denen ihr für uns arbeiten könnt. Wenn die Leute von deinem Dzul bis dahin jemanden mit dem Geld zum heiligen Cenote geschickt haben, lassen wir euch laufen. Wenn nicht, seid ihr bis dahin ohnehin am Ende, aber wir sind gnädiger als die Dzulob. Wir lassen euch nicht langsam verrecken, sondern schneiden euch die Hälse durch.«
Als die Männer sie in die Hütte stießen, war Jaime bereits auf das Gerüst gefesselt, sein Gesicht verschwollen von den Schlägen. Niemand befahl Anavera, wohin sie sich legen sollte, also legte sie sich an seine Seite.
»Danke«, hatte sie gesagt. Als er nichts erwiderte, hatte sie weitergesprochen: »Ich hätte nicht gewagt, mich zu wehren, ich habe geglaubt, ich müsste es ertragen oder sterben. Du hast es mir erspart. Dafür kannst du meinen Dank ruhig annehmen, auch wenn du es nicht gewohnt bist, weil bisher nie jemand Grund hatte, sich bei dir zu bedanken.«
Er überwand sich. »Ohne mich wärst du nicht in diese Lage geraten«, sagte er.
Ihm zu widersprechen war sinnlos. Sie hatten sich bisher jede Wahrheit an den Kopf geworfen und würden sich jetzt keine Lüge glauben. »Ohne dich hätte ich Chichén Itzá nicht gesehen«, sagte sie. »Ohne dich geht nicht mehr, Jaime. Für ohne dich ist es immer irgendwann zu spät.«
Darauf etwas zu sagen hatte er in dieser Nacht nicht fertiggebracht. Aber sie war sicher, seinen Atem lächeln zu hören.
In einer der folgenden Nächte dachte sie überwach und wirr vor Todesangst und Verlangen: Vielleicht sollte man das mit allen Liebenden der Welt tun – sie Seite an Seite fesseln, ihnen verbieten, einander zu berühren, damit sie lernen, miteinander zu sprechen. Nacht für Nacht.
»Sagst du mir, warum du Angst vor Licht hast, Jaime?«
»Ich habe keine Angst vor Licht.«
»Warum ziehst du dann Vorhänge vor Fenster und klammerst sie mit Nadeln zu?«
»Ich weiß nicht. Weil das, was im Haus geschieht, niemanden angeht. Weil man Türen und Fenster schließt und Vorhänge zuzieht, ehe man in seinem Haus etwas tut.«
»Hast du das so gelernt? In Sevilla, im Haus deines Großvaters?«
»Ja.«
Mehr fragte sie ihn nicht. Sie dachte an die Narben auf seinen Händen und wollte nicht wissen, was dieser Großvater hinter den Vorhängen in seinem Haus getan hatte. Wie er seinen Barbarenenkel dafür bestraft hatte, dass ihm der Ehemann der Tochter nicht genehm gewesen war.
Die Tochter war in der Fremde, in Mexiko, gestorben, als ihr Sohn sechs Jahre alt gewesen war.
»Jaime, kannst du mir von deiner Mutter erzählen?«
»Nein«, sagte er.
Das genügte.
»Und von deinem Vater?«
»Von meinem Vater weiß ich nichts. Nur dass er Frauen ins Haus holte, bis meine Mutter weinte. Und dass er wollte, dass seine Linie mit ihm endet. Ich habe mir immer vorgenommen, ihm den Gefallen nicht zu tun.«
»Und du hast ihn nie gefragt, warum er so etwas zu dir sagt?«
»Anavera«, sagte er, »können wir von etwas Schönerem reden?«
»Von was?«
»Von dir.«
»Ich bin vom Land. Da gibt es nicht viel zu reden. Ich kann schwierige Pferde zureiten und beim Conquian betrügen.«
Er lachte. »Ich weiß nicht, wie man das spielt, Conquian.«
»Das macht nichts«, erwiderte sie. »Ich betrüge dich und gewinne sowieso.«
»Wenn wir hier herauskommen, bringst du es mir dann bei?«
»Vielleicht«, sagte sie.
Dann schwiegen sie. Was sein würde, falls sie hier herauskamen, war ein gefährliches Terrain, auf das sie sich kaum je wagten. Tief im Inneren wussten sie beide, dass nichts sein würde. Dass nichts sein durfte. Dass man sich aus Schuld und dem Leid von
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