Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Früchte gleichzeitig reif waren, aber nur gleichmäßig reife Bohnen den Geschmack verliehen, den die ausländischen Kunden der Kaffeehändler liebten. Somit wimmelte es den ganzen Herbst über auf dem Rancho von Kaffeepflückern, die mit ihren Familien kamen und in einem Hüttendorf lebten. War die Ernte eingebracht, feierten sie, ehe die Pflücker weiterzogen, ein Fest mit ihnen. Es wäre schön, die wilden Tänze auf dem Kaffeepflückerfest mit Tomás zu tanzen.
In diesem Jahr gab es mehr Pflücker auf dem Rancho als in den Jahren zuvor. Nicht, weil sie mehr Kaffee hatten, sie produzierten noch immer dieselbe Zahl Säcke, sondern weil es so viel mehr Menschen gab, die Arbeit brauchten.
Anavera stand auf. Ihre Mutter erledigte Schriftverkehr in ihrem Büro im rechten Flügel des Hauses, wo die Schulräume lagen, und hatte sie gebeten, gleich herüberzukommen, wenn sie den Brief gelesen hatte. Sie wollte wissen, ob es Neues von Josefa gab. Gewiss schrieb der Vater ihr darüber, aber sie konnte nicht oft genug hören, dass es Josefa gutging. Anavera wünschte, die Schwester hätte selbst geschrieben. Sie hatte das Schweigen satt. Gab es nicht Probleme genug, die das Leben von Menschen zerstörten? Tomás’ Hausgast, der seine gesamte Existenz bei einer Flut verloren hatte, die Kaffeepflücker, die Großgrundbesitzer von ihren Feldern verdrängten, Miguel, der in einem Gefängnis saß, in dem die Cholera grassierte – war es da nicht eine Schande, sich wegen einer Geburtstagstorte und eines ohnehin verpatzten Feuerwerks zu streiten?
Sie entschied sich, Tomás’ Brief mit den merkwürdigen Andeutungen liegen zu lassen und der Mutter einfach zu erzählen, dass Josefa sich gut einlebte. Stattdessen würde sie den Stich mitnehmen, die Karikatur von dem zu Eis gefrorenen Skelett im Maßanzug. Mit Sanchez Torrija, dessen Rurales die Bauern schikanierten, geriet die Mutter ständig aneinander, und das scheußliche Zerrbild von dessen Sohn würde sie zum Lachen bringen.
Als sie in den Hof trat, sah sie Elena, die mit Abelinda zwischen den blühenden Kübelpflanzen langsam umherzog. Abelinda ging vornübergebeugt, hielt sich den aufgeblähten Leib und stöhnte bei jedem Schritt. »Ist es so weit?«, rief Anavera erschrocken. »Carmen hat gesagt, es dauert noch bis nach dem Ende der Kaffeeernte.«
»Sag Carmen nichts, ich bitte dich!«, rief Abelinda mit schwachem Stimmchen. »Sie ist gegangen, um für den Dia de los Muertos das Grab ihres Mannes zu schmücken. Sie kümmert sich doch schon Tag und Nacht um mich, ich will ihr nicht sogar das noch nehmen.«
»Wir bekommen das auch ohne sie hin«, versuchte Elena sie zu beruhigen und strich ihr das schweißfeuchte Haar aus der Stirn. »Abelinda hat nur ein paar Krämpfe, vielleicht, weil sie so lange still gelegen hat. Wir dachten, wir gehen hier draußen ein bisschen spazieren, dann kommt es schon wieder ins Lot.«
Anavera war sich dessen nicht so sicher. Sie hatte etlichen Stuten beigestanden, die ihre Fohlen auf die Welt brachten, und glaubte etwas in Abelindas Gang zu erkennen und etwas in der Art, wie sich ihr Leib verkrampfte. »Sollten wir nicht besser Donatas Mann aus der Stadt holen?«, fragte sie.
»Ach was, Kinder kriegen wir auch ohne Donatas Mann auf die Welt, und außerdem sind doch noch vier Wochen Zeit«, erwiderte Elena.
»Alle haben so viel zu tun«, fiel Abelinda ein. »Mit dem Kaffee und dem Dia de los Muertos und den Jährlingen, die verkauft werden sollen. Ich will nicht immer nur eine Last sein, Anavera. Wenn mein Miguel wüsste, wie ich euch allen hier das Leben schwermache, würde er bestimmt den Tag verfluchen, an dem er mich geheiratet hat.«
»Dummes Zeug«, befand Elena und gab ihr einen Klaps auf den Hinterkopf. »Dann hätte dein Miguel dir eben kein solches Riesenkind machen dürfen, sondern sich mit einem mickrigen bescheiden müssen.«
Die drei Mädchen lachten, auch wenn Abelinda dabei stöhnte.
»Aber ich will so gern stark für ihn sein«, fing sie noch einmal an. »Ein verzärteltes Püppchen kann er doch jetzt nicht gebrauchen.«
»Eine Unsinn schnatternde Pute erst recht nicht«, sagte Elena. »Jetzt lass uns noch ein Stückchen gehen, dann fühlst du dich besser und schreibst deinem Miguelito einen Brief voll flammender Liebe, einverstanden? Und du, Anaverita, würdest du mir einen Gefallen tun?«
»Wenn ich kann.«
»Acalan wartet auf mich beim Süßhülsenbaum. Könntest du wohl schnell hinüberlaufen und ihm sagen,
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