Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
urbar gemacht. Kein Fremder darf seinen Fuß darauf setzen, und niemand braucht uns ein Geschenk hinzuwerfen.«
Sein jüngerer Bruder Ollin, keine sechzehn Jahre alt, sprang ihm zur Seite. »Keiner von uns kann gut lesen, und wir haben keinen Wagen. Deshalb wollen wir die Señora Gobernador bitten, mit uns zum Haus des Kommandanten zu fahren und unser Land zurückzufordern. Mehr verlangen wir nicht. Wir tun unsere Arbeit und bringen auf, was wir zu zahlen haben. Wir sind Bauern, keine Bettler.«
Anavera fühlte sich von Scham wie von einer heißen Woge übergossen. Gewiss hatte ihr Vater all sein Feingefühl aufgewandt, um den Stolz von Acalans Vater zu schonen, als er ihm das Pachtland anbot. Sie dagegen war mit der Axt eines Holzfällers auf die Gefühle dieser Männer losgegangen. Betragen hatte sie sich wie das verwöhnte Töchterchen reicher Leute, dessen Würde nie verletzt worden war. »Es tut mir leid«, murmelte sie.
Die Männer achteten nicht länger auf sie. »Señora Gobernador«, sagte Acalans Onkel zur Mutter und breitete stolz die Arme um seine Söhne. »Sie werden mit uns fahren, nicht wahr? Sie werden es tun, weil Ihr Mann es täte, wenn der Präsident ihn nicht von hier weggeholt hätte, um uns unseren Schutz zu rauben.«
»Mein Mann ist kein Zauberer, Coatl«, erklärte ihre Mutter. »Gegen die Gesetzeslage ist er genauso machtlos wie Sie und ich. Und das Gesetz besagt nun einmal, dass die Gemeinden kein Land mehr halten dürfen, sondern alles verkaufen müssen. Allerdings müsste man Ihnen das Recht einräumen, das Land selbst zu kaufen. Wollen Sie es gern kaufen, Coatl?«
Der Mann krempelte die Taschen seiner Baumwollhosen um. Nicht ein Centavo fiel klimpernd zu Boden. »Wovon soll ich etwas kaufen, Señora? Was mein Land mir einbringt, genügt an den meisten Tagen, um meinen Kindern etwas auf den Tisch zu stellen, und dafür danke ich dem Herrgott und der Jungfrau. Übrig bleibt mir nichts.«
»Sie können es sich borgen«, sagte die Mutter und raffte Papiere auf dem Tisch zusammen. »Ja, kommen Sie, fahren wir in die Stadt und sehen, was sich tun lässt. Anavera, kannst du dich um das Tagegeld für die Pflücker kümmern?«
Sie wies auf die Anzahl lederner Beutel, in die sie allabendlich den Lohn für die Leute zählte. Anavera nickte. Als alle sich zum Gehen wandten, entdeckten sie Elena, die im Türrahmen stand.
»Kommt das Kind?«, fragte Anavera erschrocken.
Elena schüttelte den Kopf. »Abelinda hat sich ein bisschen auf die Bank gesetzt. Sie sagt, sie fühlt sich besser, und ich wollte sehen, warum hier so ein Geschrei herrscht. Es ist schon wieder dieser Sanchez Torrija, oder? Der Teufel.«
Acalans Onkel Coatl den Kopf. »Ja, es ist wieder der Teufel«, sagte er. »Der schwarze, rauchende Spiegel, der nicht ruhen wird, ehe er dieses ganze Land ins Verderben gestürzt hat.« Der schwarze, rauchende Spiegel war der Aztekengott Tezcatlipoca, der für Unheil, Kampf und Krieg unter den Geschöpfen der Erde sorgte. Dass Coatl in einem Satz seinem Herrgott und der Jungfrau dankte und im nächsten einen der alten Götter beschwor, verwunderte niemanden. Die Bauern in den Bergen taten es alle, wie sie vom Spanischen in ihr Nahuatl wechselten, ohne es zu bemerken. Es war, als schliefen die Götter vergangener Zeiten noch in den Felsen über dem Tal.
»Einer muss ein Ende mit ihm machen«, rief der junge Ollin und ballte die Faust. »Ehe er uns wie Kojoten die Kehlen durchschneidet, tun wir es mit ihm!«
»Ich gestatte keine solchen Reden in meinem Haus«, fiel ihm die Mutter ins Wort. »Wir sind zivilisierte Menschen, Ollin, und wir betragen uns wie solche. Lass uns jeden, der anderes behauptet, Lügen strafen.« Sie strich ihm über die Schulter. Dann ging sie den Männern voraus.
Acalans Vater, sein Onkel und seine Söhne drängten sich nahezu gleichzeitig aus der Tür, und Acalan wollte ihnen folgen, doch sein Vater drehte sich nach ihm um und sagte: »Du bleib hier, hilf deiner Mutter die Ziegen melken und gib deinen Basen zu trinken. In der Stadt, wenn es ernst wird, bekommst du Feigling doch sowieso den Mund nicht auf.«
Acalans Hand fuhr an seine Wange, obwohl der Vater ihn nicht berührt hatte. Er war ein Mann, kein Junge mehr, und kein Mann ließ sich von einem anderen ungestraft einen Feigling nennen. Vom eigenen Vater aber blieb ihm nichts übrig, als den Schlag einzustecken.
»Recht hat er, oder?«, fragte Elena hinter der Tür lauernd. »Wenn es ernst wird, bekommst du
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