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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
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ihr Schreiben Arbeit nannte. Um ihn zu beeindrucken, bauschte sie die Handvoll Zeilen, die sie seit ihrer Ankunft zusammengestoppelt hatte, zu Artikeln und Essays auf und behauptete, sie plane ein längeres Projekt, eine Art Denkschrift zur Lage des Landes. »Als Titel dachte ich mir ›Mexiko auf dem Weg unter die zivilisierten Nationen‹«, erklärte sie und war selbst verblüfft über ihren Einfall. Plötzlich brach sich die Begeisterung für das Schreiben wieder Bahn. Einmal in Schwung geredet, fuhr sie ohne Pause fort: »Ich würde gern mit einem Beispiel beginnen, an dem ich das Ganze aufziehen kann. Vielleicht weißt du ja etwas, das sich eignet, und vielleicht könntest du mir mit den Recherchen helfen?«
    Ihr Vater stützte den Kopf in eine Hand, ohne den Blick von ihr zu wenden. »So etwas weiß ich in der Tat«, sagte er. »Das Entwässerungsprojekt für die Slums im Osten. Ich denke, trockene Häuser und Straßen sind ein großer Schritt auf dem Weg in die Zivilisation, du nicht?«
    »Doch!«, rief sie mit Feuereifer. »Und du meinst, ich könnte mit Leuten sprechen, die dafür verantwortlich sind?«
    Er lächelte. »Du sprichst mit einem. Aber natürlich gibt es jede Menge anderer Leute, die dir Interessanteres erzählen können als ich. Weshalb besuchst du nicht Onkel Stefan? Erinnerst du dich an seinen Bekannten George Temperley? Er vermittelt die Finanzierung durch die englischen Banken, und er ist ein brillanter Erzähler. Außerdem würde die Familie sich unendlich freuen, dich zu sehen.«
    Im Kerzenlicht sah sie ihm zu, wie er sie mit seinem funkelnden, nie ganz zu deutenden Blick musterte und den Kopf in seine schlanke Hand stützte, die aus der blütenweißen Manschette ragte. Ihr fiel ein, was Don Jaime über das Erbe des Barbarenblutes gesagt hatte, und beinahe hätte sie aufgelacht. Ein Mensch, der beherrschter und zivilisierter auftrat als ihr Vater, war schwerlich vorstellbar. Er und Don Jaime würden einander verstehen, durchfuhr es sie. Im selben Moment war der Wunsch, die beiden zusammenzubringen, geboren. Der Vater hatte ihr nicht verboten, mit Don Jaime zu tanzen, er würde ihr auch nicht verbieten, ihn zu treffen, und er würde Tomás und den anderen erklären, dass sie mit ihrem Urteil falschlagen.
    »Tahtli«, begann sie, brach aber ab, weil ihr nicht recht einfiel, wie sie ihm ihren Wunsch erklären sollte.
    Er legte die Hand über ihre. »Huitzilli, es tut mir leid, dass ich mich nicht richtig um dich gekümmert habe. Es ist gerade ein bisschen verrückt hier, weißt du? Und ich kann dir nicht einmal versprechen, dass es in nächster Zeit besser wird …«
    Sie unterbrach ihn: »Es ist wegen Miguel, nicht wahr? Tomás sagt, du bist der Einzige, der den Präsidenten dazu bringt, ihm die Haft ein wenig leichter zu machen. Und vor allem, ihm nichts Schlimmeres anzutun. Das ist wichtiger als alles andere, Tahtli. Ich verstehe dich. Wirklich.«
    »Danke«, sagte er. »Aber mit deinem Projekt werde ich dir helfen, das verspreche ich dir. Und mein Herz, es ist im Augenblick nicht klug, sich allzu sichtbar in die Nähe von El Siglo zu stellen. Aber Eduardo Devera, der leitende Redakteur von El Tiempo, hat mir angeboten, sich deine Arbeiten anzusehen, wenn du möchtest. Er ist ein brillanter, äußerst erfahrener Journalist.«
    El Tiempo war die Zeitung der Konservativen, die in ihrem Elternhaus stets als brav wie Bohnenstroh verspottet worden war. Wer etwas auf sich hielt, schrieb für El Siglo, der spritzig und provokativ daherkam und nie ein Blatt vor den Mund nahm. »Was meinst du denn damit, es ist nicht klug, sich in die Nähe von El Siglo zu stellen?«, fragte Josefa. »Stellst du dich etwa auch nicht mehr dorthin?«
    »Ich schon«, erwiderte der Vater. »Aber ich habe jahrelang geübt, bei Steinschlag meinen Kopf zu schützen. Mein Kind würde ich derzeit lieber nicht dort sehen, und zudem ist fraglich, wie lange die Zeitung überhaupt noch erscheint.«
    »Das ist doch nicht dein Ernst!«, rief sie. »Dieses Gerede von der geheimen Zensurbehörde, daran kann doch nichts sein, es wäre ja gegen die Verfassung!«
    »Verfassungen sind aus Papier, Huitzilli«, sagte er mit einer Spur von Wehmut, nahm die Rechnung, die neben seinem Gedeck lag, und riss sie in der Mitte durch. »Tu mir den Gefallen und häng dich nicht allzu weit aus dem Fenster, ja? Vor allem sprich nicht darüber. Auch nicht mit deinem törichten Vater in einem öffentlichen Restaurant.«
    Sein leises Lachen

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