Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
seinen Ziegen aufgehängt.
11
D as Elysian Tivoli mit seinen Säulen und Erkern, dem Lichterglanz aus kristallenen Lüstern und einem Marmorboden, der in der Farbe von Rosenquarz schimmerte, konnte unmöglich ein Restaurant sein. Es war ein Palast. Eine Woche nach dem Ball hatte Jaime Sanchez Torrija Josefa das grüne Kleid geschickt, und am Abend hatte er sie mit dem Wagen abholen lassen. Den Abend und die Nacht unter dem glasklaren Sternenhimmel, der sich über der Stadt wölbte und ihren Zauber fing, würde sie nie vergessen.
Das Elysian Tivoli.
Das grüne Kleid.
Und Jaime.
Das Restaurant war ein Traum, das Kleid war aus purer, fließender Seide im Grün von Seerosenlaub, und Jaime war so, dass Josefa an nichts anderes mehr denken konnte. Jetzt saß sie an ihrem Schreibtisch und versuchte, einen scharfsinnigen, gewitzten Anfang für ihren Artikel über die Entwässerung der Slums zu finden, aber ihr Sinn ließ sich nicht fesseln, sondern schweifte ab wie ihr Blick. Aus dem Fenster ihres schönen in Weiß und Gold gehaltenen Salons zog er über die Dächer und Balkone der gegenüberliegenden Häuser. Dort, wo der Blick an seine Grenze stieß, wanderte der Sinn weiter – um die Straßenecke und in die Calle Tacuba, wo Jaime sein Haus hatte. War er jetzt dort?, fragte sich der Sinn. Saß er in seinem dunklen Zimmer und ließ die Hände über die Tasten seines Fortepianos gleiten, das er zu Schiff aus Spanien mitgebracht hatte? Schweifte ihm sein Sinn dabei manchmal ab und wanderte mit seinem Blick aus dem Fenster? Flog der Sinn dem Blick um die Straßenecke davon – flog er ein einziges Mal zu ihr?
Josefa war in seinem Haus nie gewesen. Das spanische Fortepiano und den durch Vorhänge abgedunkelten Raum kannte sie nur aus ihrer Vorstellung. Er hatte beides flüchtig erwähnt. »Warum alle Welt hier die Vorhänge aufreißt, verstehe ich nicht«, hatte er gesagt und: »Meines Großvaters Fortepiano habe ich mitgenommen, weil es schade gewesen wäre, es der Verwandtschaft in den Rachen zu werfen.« In ihrem Wunsch, die Räume, in denen er lebte, zu kennen, hatte sie sich alles bis ins Kleinste ausgemalt. Würde sie jetzt, da sie nicht länger unter der Aufsicht von Tomás und seiner Familie stand, Gelegenheit erhalten, die Zimmer, die seinen Geschmack verrieten und in denen sein Duft hing, kennenzulernen?
Er hatte sie eingeladen. Für den Nachmittag nach jenem Traum von einer Nacht. »Ich bin gezwungen, einige Leute in mein Haus zu einer grünen Stunde zu bitten«, hatte er gesagt. »Kommen Sie auch? Schon der Farbe wegen können Sie im Grunde ja nicht nein sagen.«
Sie wollte nicht nein sagen. Sie wollte ja, ja, ja schreien, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was eine grüne Stunde war, und er es ihr – wie so vieles – mühsam erklären musste. »Nein, erzählen Sie mir nicht, Sie könnten nicht kommen, denn Sie hätten kein Kleid«, beendete er die Erklärung. »Ich lasse Ihnen wieder eines schicken. In der Kürze der Zeit kann es nicht mehr als Fertigware sein, aber für eine grüne Stunde dürfte es genügen.«
»Ich habe doch dieses!«, rief Josefa, die ihr grünes Kleid – das wundervolle Kleid, das er für sie ausgesucht hatte – liebte.
»Ich weiß, in Mexiko bleiben zahllose Verbrechen gegen den Stil ungesühnt«, erwiderte er, als täte etwas ihm im Innersten weh. »Aber dass eine Dame sich zweimal hintereinander im selben Kleid sehen lässt, ginge selbst in einem Krötenpfuhl zu weit.«
Ihre Wangen brannten, sooft er ihr auf solche Weise zeigte, wie unbedarft, wie ohne jede Kultur sie war. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Wenn Sie mich zu Ihrem Fest einladen, würde ich sehr gern kommen.«
Er hob von neuem missbilligend eine Braue und erwiderte: »Eine grüne Stunde ist kein Fest. Eine grüne Stunde ist das Leichenbegängnis der zu Tode gelangweilten Zeit. Auch brauchen Sie nicht ständig zu beteuern, es tue Ihnen leid. Das bedarf keiner Erwähnung – in Ihren Kinderaugen steht es bereits wie mit Kreide auf der Schiefertafel.«
Josefa kamen die Tränen, so sehr schämte sie sich. Als sie sich wegdrehte, griff er ihr unters Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich. Hinter einem Tränenschleier spiegelte sich das Licht der Kronleuchter in seinen goldbraunen Augen. Er sagte nichts. Als er den Kopf neigte und mit seinen Lippen ihre streifte, war sie sicher, ihr Herz, ihr Atem und der Fluss ihres Blutes setzten aus. Dann ließ er sie los.
»Ich glaube, Sie gehören ins Bett«, sagte er,
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