Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
solange ich denken kann. Auf Deutsch, auf Nahuatl, auf Spanisch – alle Sprachen der Welt singen Anaveras Loblied, aber mir hängt es zum Hals heraus. Hat diese Schwester von mir eigentlich jemals etwas richtig Schlechtes getan?«
Tomás überlegte. »Vielleicht hätte sie es gern versucht«, sagte er schließlich. »Vielleicht hast du ihr ja nie Zeit und Raum dazu gelassen?«
»Du meinst, ich war ein solcher Ausbund an Schlechtigkeit, dass ihr nur noch die Rolle des Goldkindes blieb?«
Er lachte. »Ja, so etwas in der Art meine ich. Jetzt komm weiter, du Ausbund an Schlechtigkeit. Wir haben noch nicht einmal über den Rand des Abgrunds gesehen, über den ich dich heute noch stürzen will.«
Ihr Trotz verbot ihr, ihren Hunger noch einmal zu erwähnen, ehe sie schweigend hinter ihm herstapfte. Mit einem Abgrund hatte er ihr gedroht, und einen Abgrund sollte sie bekommen. Solange er sie durch die Barrios Guerrero und Santa María führte, blieb die Armut erträglich. Sie ließ sich in Worte fassen, und manches hatte sogar etwas Malerisches. Eine alte Frau, umringt von Familienmitgliedern, kochte über einem Häuflein Kohle eine Art Eintopf, in den jeder warf, was er irgendwo aufgetrieben hatte. Drei Jungen spielten Fußball mit einem Rattenkadaver, was ein wenig widerlich war, aber niemandem weh tat. Männer saßen an Straßenecken und spielten um ein paar Münzen Karten.
Je tiefer Tomás und Josefa jedoch in den Osten der Stadt vordrangen, desto unbewohnbarer erschienen die Behausungen, in denen sich mehr und mehr Menschen drängten, und desto höher wuchsen die Berge von Unrat in den ungepflasterten Straßen. Mütter und Kinder, zottige Köter und zerrupfte Tauben wühlten nach Überresten, die sich aufessen, anderswie gebrauchen oder gar verkaufen ließen. Irgendwann bemerkte Josefa, dass sie keinen Hunger mehr hatte, weil der Gestank nach Fäulnis und Moder, nach verdorbenem Fisch, nach Kot und Urin ihr Übelkeit bereitete. Aus den Pulquerias, Bretterbuden, die schon am Morgen geöffnet hatten, torkelten Männer jeden Alters, abgefüllt mit dem Balsam der Wehmut, schlugen lang hin und blieben im Dreck der Straßengräben liegen. Auf festem Boden gingen Josefa und Tomás schon längst nicht mehr, sondern wateten bis zu den Knöcheln im Schlamm. Die Armut hatte aufgehört erträglich zu sein.
Josefas grünes Seerosenkleid war auf alle Zeit verdorben. Der sumpfige Schlick, in dem es schleifte, stank so sehr, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. Solide gezimmerte Häuser wichen verfallenen Geisterruinen zwischen Hütten aus Lehmziegeln, Hütten aus morschen Brettern und Hütten aus gesammelten Abfallteilen. Straßen gab es nicht, höchstens halbwegs trockene Inseln zwischen Prielen und Tümpeln, in denen Tierkadaver schwammen, verbeulte Töpfe, zerfetzte Körbe und Hüte, Reste von Schuhen ohne Senkel und manch anderes, von dem Josefa lieber nicht wusste, was es einmal gewesen war.
Am Schlimmsten war, dass in alledem immer noch Kinder spielten. Zu Skeletten abgemagerte Kinder desselben schönen Menschenschlags, dem ihr Vater, ihre Schwester und ihr Bruder angehörten, Kinder mit aufgequollenen Bäuchen, eitrig entzündeten Augen und grindigen, von Insekten umschwirrten Köpfen. Kein Erwachsener schien sich für ihr Schicksal verantwortlich zu fühlen. Männer in schmutzigen, ehemals weißen Baumwollhosen, die mehr entblößten, als sie verdeckten, lehnten an Schuppen, rauchten und reichten Pulque in Krügen herum. Sobald ein Kind sich ihnen näherte, verscheuchten sie es mit Flüchen und Fußtritten. Im Eingang eines halb im Schlammboden versunkenen Hauses saß eine schwangere Frau und spuckte Blut.
Tomás sagte nichts mehr. Mit gesenktem Kopf ging er vor Josefa her und sah weder nach links noch nach rechts. Ein Haufen Kinder, nackt bis auf ein paar Fetzen, sprang ihnen in den Weg. Josefa sah Hände wie Klauen, die sich ihr an dürren Armen entgegenstreckten, und Gesichter, die nicht bittend, sondern gierig wirkten, nicht unterwürfig, sondern zu allem bereit, weil sie nichts zu verlieren hatten. Sie hatte nichts bei sich, keine Tasche, in der sich eine einzige Münze hätte finden lassen. Hilfesuchend sah sie nach Tomás, doch der schob die Kinder resolut beiseite und bahnte ihnen einen Weg.
»Kannst du ihnen nichts geben?«, fragte Josefa, der sich die Blicke der Kinder ins Hirn brannten.
Tomás schüttelte den Kopf. »Wenn ich dem Ersten etwas gebe, habe ich sie zu Hunderten um mich, und wem helfe
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