Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
ich damit? Es ist keine Lösung, Kinder zu Bettlern zu dressieren, statt ihren Eltern ordentlich bezahlte Arbeit zu verschaffen und das bisschen, das sie zum Leben brauchen, erschwinglich zu machen.«
Sie kämpften sich weiter. Vor dem, was sie in ihrer greifbaren Nähe sah und hörte, spürte und roch, hätte Josefa am liebsten alle Sinne verschlossen. Kinder mit verformten Gliedmaßen, offene Wunden in Gesichtern, Münder, in denen kein einziger Zahn mehr steckte, Elend, das keine Pause machte, sondern in seiner ganzen Wucht auf sie einstürmte. Aber ihre Augen blieben offen, und sie hielt sich weder Ohren noch Nase zu. »Tomás«, fragte sie nach einer Weile, als sie sicher war, mehr nicht auszuhalten, »warum hat keiner dieser Leute ordentlich bezahlte Arbeit? Warum ist das, was sie zum Leben brauchen, für sie unerschwinglich?«
»Das weißt du, oder?« Er hatte noch immer kein Erbarmen und drehte sich nicht nach ihr um. »Weil Männer wie dein Lagartijo, dein prächtiger Truthahn der Nacht, es so wollen. Weil sie den Leuten ihr Land wegnehmen, damit sie in Horden in die Stadt strömen. Wer hier ankommt und mitten im Sumpf sein Lager aufschlägt, ist am Ende und stellt keine Forderungen, sondern nimmt jeden Hungerlohn, den er kriegen kann. Er will nicht mehr als einen Topf voll Mais und Bohnen, um seine Familie zu ernähren, aber Mais und Bohnen, das Billigste, was dieses Land hervorbringt, kann er von seinen paar Centavos nicht mehr bezahlen, weil der Präsident das Ausland beliefern will, nicht nutzlose Indiobrut vor dem Hungertod bewahren. Und die Hacendados auf ihren Riesenländereien reiben sich die Hände über ihren Exportgewinnen, dein Lagartijo und sein Vater allen voran. Gerade haben die beiden Land in Yucatán, an der Grenze zu Chan Santa Cruz, aufgekauft, auf dem vermutlich ein ganzes Dorf satt werden könnte.«
»Und dessen bist du sicher?«, fragte sie verzweifelt. »Vielleicht steckt hinter diesem Landkauf doch allein der Vater, und Jaime hat nichts damit zu tun.«
»Ja, dessen bin ich sicher«, erwiderte Tomás kalt. »Wenn du mir nicht glaubst, frag deinen Vater. Hat er dir je erzählt, dass er in einem Slum wie diesem aufgewachsen ist, wenn auch nicht hier, sondern in Veracruz, wo es zu allem heiß ist und das Gelbfieber schneller als eine Sense um sich schlägt? Dein Vater hat sein Leben lang dagegen gekämpft, dass Menschen das eine Leben, das ihnen geschenkt ist, in solchem Elend zubringen müssen.«
»Das Entwässerungsprojekt«, stammelte Josefa. »Wird es helfen, Tomás?«
»Das Entwässerungsprojekt ist großartig. Über die Einzelheiten weißt du mehr als ich – über die Staumauern und Kanäle, die verhindern, dass die Überflutungen der Seeufer sich Jahr für Jahr hier fangen. Wenn es so, wie die genialen Ingenieure es entworfen haben, zu Ende geführt wird, beschert es Tausenden von Menschen trockene Häuser und ein gesünderes Leben. Aber Jaime Sanchez Torrija sammelt ja an jeder Ecke Verbündete, die gegen die hohen Kosten protestieren und den Abbruch der Arbeiten fordern. Von dem Geld könnte man ein prachtvolles neues Rathaus und ein Postamt bauen und obendrein so viel Polizei bezahlen, dass jeder, der vor Hunger stiehlt, auf der Stelle totgeprügelt werden kann.«
Ich will nichts mehr hören, schrie es in Josefa. Sie sah den Saal vor sich, in dem sie gestern Nacht ein Vermögen verspielt hatte, den Glanz der Kronleuchter, das perlende Gold des Champagners und Jaimes spöttisches Lächeln, das sich um ein Haar gestattete, zärtlich zu sein. Bei jedem Blick auf ihre Umgebung kam ihr das, was sie getan, was sie begehrt und ersehnt hatte, mehr wie ein Verbrechen vor.
Tomás wartete kurz ab, doch als von ihr nichts mehr kam, ging er weiter. Eine Gruppe gebeugter, ächzender Männer schleppte einen Sarg über einen Platz mit einer Kirche. Ihnen folgte eine Schar heruntergekommener Frauen und Kinder, versunken in ihre monotone Klage. Auf den Stufen vor der Kirchentür lag ein Mann im Schlamm und schlief. Josefa zwang sich, noch bis in den Schatten der Kirche zu waten, dann lehnte sie sich restlos erschöpft an deren kühle Mauer. Ihr Inneres kam ihr vor wie ausgebrannt.
Aus dem Leichenzug löste sich eine kleine Gestalt. Einer der mageren Jungen hatte Josefa entdeckt und lief mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Die braune Haut schlackerte um den Knochen seines Arms wie bei einem Greis, und auch der Ausdruck des Gesichts – wenngleich straff und glatt – schien in seiner
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