Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Härte alt. Josefa tastete sinnlos in den Falten ihres Rocks herum und wünschte sich eine einzige Münze, die sie ihm hätte zuwerfen können, damit er nicht näher kam. Aber er kam näher. »Es tut mir leid«, murmelte Josefa, »ich habe kein Geld bei mir.« Als wäre sie ihm einen Beweis schuldig, hielt sie ihm die leeren Hände entgegen.
Blitzschnell streckte der Junge die Hand nach ihr. Wie Fangzähne schlossen sich die Finger seiner Rechten um ihren Arm, bohrten sich die Nägel in ihr Fleisch, dass der Schmerz für Augenblicke das Glied lähmte. Die freie Linke langte nach dem goldenen Armreif. Mit einer einzigen Bewegung streifte er ihn ihr vom Gelenk, ließ sie los und rannte davon.
Josefa entfuhr ein entsetzter Laut, Tomás wirbelte herum und erwischte den Dieb am Hemdzipfel. Dem gelang es, sich loszureißen, doch inzwischen waren zwei Polizisten mit trägen Schritten auf den Platz geschlurft. So verschlafen sie wirkten, reagierte der eine in Windeseile, zog seine Waffe aus dem Gurt und feuerte. Der Schuss zerfetzte die schwere Luft. Durch den Rauch sah Josefa den Jungen stürzen, schrie auf und rannte blindlings auf ihn zu. Aber er hatte sich nur niedergeworfen, um der Kugel zu entgehen, die ein Stück weiter in den Boden schlug und eine braune Fontäne aufspritzen ließ.
Noch ehe Josefa ihn erreichte, waren die beiden Polizisten bei dem Jungen. Der eine zerrte ihn am Ohr ein Stück in die Höhe, der andere holte mit seinem Schlagstock aus und drosch zu. Die beiden Geräusche waren entsetzlich – das Holz, das auf den kleinen Körper traf, und der wimmernde Schrei des Getroffenen, der noch eben wie ein abgebrühter Alter gewirkt hatte, jetzt aber nur noch ein Kind war, das sich vor Angst und Schmerzen krümmte.
Josefa sah auf Tomás, der hilflos vor Entsetzen dastand, und dann wieder auf den Jungen, der seinen Kopf mit den Armen schützte, ehe ihn der nächste Hieb traf. »Sind Sie von Sinnen?«, brüllte sie, sprang hinzu und schlug dem Polizisten den Stock, mit dem er von neuem ausholte, zur Seite. »Sie schießen ziellos auf ein Kind, und wenn Sie es nicht treffen, prügeln Sie ihm stattdessen die Seele aus dem Leib? Und das alles in einem Beerdigungszug. Glauben Sie, nur weil jemand sich keinen Leichenwagen leisten kann, verdient sein Tod keinen Respekt?«
Der Polizist glotzte sie an, als hätte er ein Gespenst vor sich. Sein Kumpan ließ den Jungen los, der auf dem Boden zusammensackte, sich das Ohr hielt und jämmerlich weinte. Aus dem Zug lösten sich Frauen in schwarzen Rebozos, näherten sich erst scheu, dann forscher, und endlich warf sich eine vor dem Jungen auf die Knie. Sie schlang die Arme um ihn und stimmte in sein Weinen ein. »Die Jungfrau von Guadelupe soll Sie und Ihr gutes Herz segnen, Señorita linda«, sagte eine andere in brüchigem Spanisch zu Josefa, reckte sich und zeichnete ihr mit ihrem schmierigen Finger ein Kreuz auf die Stirn.
Der Polizist hob den Stock, um die Frauen zu verjagen, doch ein Blick von Josefa ließ ihn innehalten. »Aber das Ungeziefer hat Sie doch bestohlen!«, rief er entrüstet, bückte sich nach dem Jungen und förderte triumphierend Josefas Armreif zutage. »Prügeln sollte man das Diebsgesindel, dass es bis ans Lebensende auf allen vieren kraucht. Und Sie, Señorita, sollten sich von Ihrem Begleiter nach Hause bringen lassen. Das hier ist keine Gegend für ein Mädchen von guten weißen Eltern. Sie verderben sich nicht nur Ihr hübsches Kleid dabei.«
»Ihre Weisheiten können Sie für sich behalten!«, rief Josefa. »Auf den Rat von Menschen, die Kinder zu Krüppeln prügeln, verzichte ich. Und den Goldschmuck geben sie dem Jungen besser zurück, sonst sind nämlich Sie der Dieb. Der Junge hat mir einen Dienst erwiesen, und weil ich kein Geld bei mir hatte, habe ich ihn mit dem Schmuckstück bezahlt.« Sie nahm ihm den Reifen, in dem ihre Initialen und der aztekische Segen zu ihrer Taufe standen, weg und legte ihn der Frau, die sie ungläubig anstarrte, in die Hand.
Der Polizist wollte protestieren, aber Tomás trat hinzu und gebot ihm Schweigen. »Sie haben gehört, was die Dame gesagt hat. Und jetzt ziehen Sie Leine, wenn Sie nicht wollen, dass wir uns über Sie beschweren.« Er ging in die Hocke und half dem Jungen und seiner Mutter auf die Füße. Der Junge blutete aus einer Schürfwunde an der Schläfe, schien sonst aber nicht verletzt. Übel wurde Josefa trotzdem. Als Kind hatte sie sich, sobald sie Blut auch nur roch, übergeben.
Tomás
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