Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
dieser Mann ein Ungeheuer ist – und ich habe mit ihm getanzt und geredet und getrunken. Ich habe ihn geküsst, Tahtli, ich habe ein Ungeheuer geküsst!« Sie hatte es niemals jemandem sagen wollen, schon gar nicht ihrem Vater, dem sie so gern imponiert hätte, aber jetzt, da es heraus war, fiel in großen Brocken Gewicht von ihr ab.
Zart hob er ihr Kinn und sah ihr in die Augen. »Ungeheuer sind erstaunlich selten«, sagte er. »Die meisten Menschen, die anderen übel mitspielen, tun das, weil es ihnen selbst so übel ergeht. Ja, es macht mir Angst, dass du Jaime Sanchez Torrija getroffen hast, und ich will, dass du es nicht wieder tust, denn er würde dich verletzen. Aber Grund, sich zu schämen, hast nicht du, sondern ich. Ich habe dich allein gelassen. Ich habe dir wieder und wieder versprochen, mich um dich zu kümmern, und ich habe es nicht getan.«
Sie lehnte sich an ihn, und die Müdigkeit schloss sie wie eine Daunendecke ein. Es würde alles gut werden. Sie hatte einen falschen Weg eingeschlagen, aber jetzt war sie wieder auf dem richtigen, und ihr Vater war da, um ihr zu helfen.
»Alles in Ordnung, Huitzilli?«
Sie nickte. »Ich will schlafen, Tahtli. Und von morgen an will ich schreiben.«
17
A nfang Dezember prangte Querétaro in seiner vollen, betörenden Schönheit. Die letzten samtroten Zinnien blühten zwischen blauen Passionsblumen und Büscheln des buttergelben Pericon. Langstielige Dahlien reckten ihre Köpfe bis an die Kronen der Bäume, und die Luft war nicht mehr glasig vor Hitze, sondern ließ die Tausendfaltigkeit der Grüntöne auf den Hängen und das Silberblau der Gipfel wie frisch gewaschen leuchten. Anavera und ihre Mutter, die sich im ersten Morgenlicht auf den Weg in die Stadt machten, glichen zwei Verschwörerinnen mit einem köstlichen Geheimnis.
Sie waren früh aufgebrochen, weil sie nicht allzu schnell vorankommen würden und den Zug auf keinen Fall verpassen wollten. Die Mutter lenkte den Ponykarren, der Platz für Josefa, Tomás und das Gepäck bot, und Anavera nahm Citlali, den Hengst ihres Vaters, der an der Führleine tänzelte, als Handpferd. Der Vater liebte es, von der Stadt bis nach El Manzanal zu reiten. Dafür verzichtete Anavera gern auf Aztatl und ritt Vicentes Wallach, damit die zwei Hengste unterwegs nicht ins Raufen kamen.
So viel Schweres hatte über ihrem Tal gelegen und den Himmel verdunkelt, doch an diesem Morgen herrschte nichts als Freude. Anavera sah ihre Mutter hochaufgerichtet auf dem Bock des Karrens sitzen, ihr langes Haar hob sich im leichten Wind, und sie war so schön wie das Land um sie und wirkte so glücklich wie seit Monaten nicht mehr. Sie sah nicht länger aus wie eine Mutter erwachsener Kinder, fand Anavera, sondern wie ein Mädchen, das seinem Liebsten entgegeneilte. Die Sehnsucht, mit der sie auf ihn gewartet hatte, war in jedem ihrer Atemzüge, im Zittern ihrer Hände und im Scharren ihrer Füße zu spüren.
In der Stadt kamen sie an der Statue der Josefa Ortiz vorbei, der Heldin der Befreiungskriege, nach der Josefa benannt worden war. Flüchtig bemerkte Anavera, wie ihre Muskeln sich spannten. Wie würde die Schwester ihr begegnen? Würde sie ihr endlich verzeihen oder würde zwischen ihnen noch immer das Schweigen herrschen, das Anavera mit jedem Tag sinnloser erschien? Sie jedenfalls war fest entschlossen, alles zu tun, um Josefa, die sie schrecklich vermisste, zurückzugewinnen.
Vor dem Bahnhof ließen sie Pferde und Karren zurück, um die Ankömmlinge am Gleis zu empfangen. Sie würden einen Monat lang bleiben, ehe sie im neuen Jahr zurück in die Hauptstadt mussten, aber im Augenblick fühlte sich der Monat, der sich vor ihnen erstreckte, endlos und voller Versprechungen an. Wider alle Vernunft kam es Anavera vor, als müsste sich für alles eine Lösung finden, wenn sie erst wieder zusammen waren, die ganze Familie und Tomás, der bald dazugehören würde. Natürlich war das Unsinn. Die Ankunft der drei machte Abelindas Kinder nicht lebendig und riss die junge Frau nicht aus ihrer tiefen dunklen Trauer. Sie gab Coatls Familie nicht den Vater zurück, und sie vertrieb Felipe Sanchez Torrija nicht von dem Land, das von alters her den Bauern von Querétaro gehörte. Zusammen aber würden sie sich ihre Insel zurückerobern, auf der das Leben heil war und auf die sie sich zurückziehen konnten, um Kraft zu schöpfen.
»Mein Gewissen plagt mich noch immer«, sagte die Mutter, als sie sich zwischen die Reihen der Abholer vor das
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