Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Gleis drängten. »Ich hätte Benito mit diesem Wissen über Miguels Kinder nicht allein lassen dürfen.«
»Aber was hättest du denn sonst tun sollen?«, fragte Anavera.
»Abelinda dazu bringen, ihrem Mann zu schreiben«, erwiderte die Mutter. »Miguel ist doch kein Dummkopf. Er kann rechnen. Wenn sein Kind vor vier Wochen zur Welt kommen sollte und ihm Abelinda nicht schreibt, wird er Benito mit Fragen bedrängen. Und Benito wird keine Wahl haben, als ihm zu sagen, was nicht seine Aufgabe gewesen wäre.«
»Ich glaube, er tut es gern für uns«, erwiderte Anavera. »Wenn Abelinda oder Carmen es jetzt nicht können, nimmt er es ihnen eben ab.«
»Gewiss«, sagte die Mutter. »Aber wir dürfen ihm nicht alles aufbürden, nur weil er ständig die Schultern hinhält. Auch seine Kraft ist nicht endlos.«
Anavera sagte nichts mehr, weil das Rauschen des einfahrenden Zugs alle Worte verschluckt hätte, aber bei sich dachte sie: Der Vater wird tun, was getan werden muss, und dass wir ihm verschweigen, wenn wir ihn brauchen, will er nicht. Sie war sicher, dass der Vater so empfand, weil sie selbst so empfunden hätte. Weiter dachte sie nicht, denn im nächsten Augenblick kam dampfend und fauchend der Zug zum Stillstand. Über den Bahnhof toste ein Meer aus jubelnden Begrüßungsrufen und Gelächter.
In der Menge der Gesichter ein einziges, geliebtes zu erkennen war wundervoll. Tomás stand schon auf dem Trittbrett und warf sein Bündel über den Rücken. Sobald er sie entdeckte, sprang er ab und schnitt durch die Menschenmassen, ihr so schnurgerade entgegen, als zöge ein Magnet ihn an. »Mein Armadillo! Mein weltallerliebstes Tierchen!«
Die Leute um sie sprangen gerade noch rechtzeitig aus dem Weg, bevor er sie packte und mit mehr Feuer als Körperkraft um sich wirbelte. Sie wehrte sich, zwang ihn, sie abzusetzen, und umarmte ihn. Nahm seinen vertrauten Duft nach dem Öl seiner Farben in sich auf und war ein paar Herzschläge lang nichts als glücklich. Dann hob sie den Kopf: »Wo stecken denn Vater und Josefa?«
»Armadillo …«
»Sie sind nicht mitgekommen«, begriff Anavera sofort. »Was ist geschehen, Tomás?«
»Nichts. Jedenfalls nichts Neues. Bitte beruhige dich.«
»Weshalb soll ich mich beruhigen? Ich rege mich ja nicht auf«, versetzte Anavera. »Aber ich muss meine Mutter finden, ehe sie vergeblich diesen ganzen Zug entlangläuft.«
Ihre Mutter stand direkt hinter ihr. Auf ihrem schönen Gesicht war der Glanz erloschen. »Sag mir, was mit meinem Mann und meiner Tochter ist«, forderte sie Tomás tonlos auf.
»Sie haben in der Hauptstadt bleiben müssen«, begann Tomás so bedrückt, dass Anavera Mitleid überfiel.
»Mamita, Tomás kann doch nichts dafür«, rief sie.
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte die Mutter noch immer ohne Ausdruck in der Stimme. »Ist es Miguel?«
Tomás nickte und drückte dankbar Anaveras Hand. »Wir alle glauben, dass der Präsident Benito regelrecht erpresst. Solange dein Mann in der Hauptstadt bleibt und ihn täglich darum bittet, schickt er Miguel nicht nach Yucatán, sondern gewährt ihm sogar ab und an Erleichterungen. Aber wenn Benito abreist – wer weiß, was Don Perfidio dann plötzlich in den Sinn kommt?«
»Lass das niemanden hören«, fiel ihm die Mutter ins Wort.
»Was soll ich niemanden hören lassen?«, fragte Tomás verdutzt.
»Don Perfidio. Du bist nicht allein hier, und Querétaro ist nicht mehr das Land, das du kennst. Der Militärkommandant hat seine Leute überall.«
»So schlimm?«
Die Mutter nickte. »Sprich weiter.«
»Außerdem hat der Präsident vier Planungssitzungen für das Entwässerungskomitee angesetzt«, fuhr Tomás fort. »Wenn Benito die versäumt, stellt er Jaime Sanchez Torrija auf seinen Platz, der das ganze Projekt kippen will.«
»Ich kann diesen Namen nicht mehr hören«, murmelte die Mutter. »Steht und fällt denn alles in diesem Land nach dem Willen zweier Männer ohne Gewissen?«
»Es sieht so aus«, antwortete Tomás düster. »Aber mit mir darf man über die Sanchez Torrijas nicht reden. Allmählich fürchte ich wahrhaftig, ich bringe einen von den beiden um.«
Zwei Männer, die Käfige mit wild flatternden, Federn lassenden Guajolote-Hennen aus dem Zug luden, hielten in der Arbeit inne und drehten sich nach Tomás um. »Du bist schlimmer als deine Mutter«, wies Anaveras Mutter ihn zurecht. »Genügt es dir nicht, dass einer von uns im Gefängnis sitzt? Hier sind die Zellen übrigens überfüllt –
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