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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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hier?«
    Zögernd ging sie weiter. Sie hatte beinahe die Haustür des Wohnhauses erreicht, als ihr auffiel, dass einige Segmente des alten Fachwerks rosa, lindgrün und violett angestrichen waren. Die Farben pellten sich vom Untergrund ab und hatten ihre Leuchtkraft eingebüßt, aber das Haus musste in seinen Glanzzeiten eine regelrechte Villa Kunterbunt gewesen sein. Verunsichert trat Anna an die Haustür und suchte nach einer Klingel und einem Namensschild. Es gab weder das eine noch das andere, dafür entdeckte sie ein direkt auf die Tür gepinseltes, stark verblasstes Wort:
    Namaste
    Ratlos sprach sie das fremdartig klingende Wort aus: Namaste. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Dann klopfte sie entschlossen an die Tür.
    Sie gab nach.
    Anna packte die Angst. Ihr erster Impuls war, sich umzudrehen und zum Auto zurückzurennen.
    Der zweite Impuls, um ein Vielfaches stärker als der erste, führte sie in die entgegengesetzte Richtung. Hinein in das Haus. Hinein in den Flur, der über und über mit naiven Blumenmustern und Spiralen in zahllosen Farben bemalt war. Hier, in dem vor Sonne und Regen geschützten Flur, hatten die Farben ihre ursprüngliche Frische über die Zeit retten können und zogen Anna ins Innere. Sanft strich sie mit den Fingerspitzen über die Wände.
    Die Blumen. Die Farben. Sie brachten etwas in ihr zum Klingen.
    Wie eine Schlafwandlerin folgte Anna den Spiralen und Ranken durch den Flur in den nächsten Raum. Auch hier setzten sich die Wandmalereien fort, verwoben sich ineinander zu einem phantastischen Wirbel aus Orange und Rot und Violett und Pink. Anna riss sich von der Wandbemalung los, deren Verworrenheit sie geradezu schwindelig machte, und sah sich mit großen Augen um. Einige Kacheln und ein aus der Wand ragender Wasserhahn legten den Schluss nahe, dass sich hier einmal die Küche befunden hatte. Der Raum bot Platz für König Artus’ Tafelrunde, allerdings fehlten sowohl Tisch als auch Stühle, lediglich ein schief an der Wand hängender Küchenoberschrank mit weißem Resopalfurnier war noch übrig geblieben. Und Flaschen. Dutzende von völlig verstaubten leeren Bierflaschen, Weinflaschen, Schnapsflaschen. Selbst die Obdachlosen und Liebespaare, die hier Unterschlupf gefunden hatten, blieben dem Haus offensichtlich schon seit langer Zeit fern.
    Anna stieß mit dem Fuß gegen eine Bierflasche, die mit lautem Getöse durch die Küche kullerte. Das Klirren, mit dem sie schließlich zum Stillstand kam, schien durch die Türritzen zu entweichen und das düstere Treppenhaus hinaufzuhasten, um die unsichtbaren Bewohner zu wecken. Nachdem sich Anna von ihrem Schreck erholt hatte, stieß sie die Tür zum gegenüberliegenden Zimmer auf. Auch hier fehlte sämtliches Mobiliar, und doch strahlte das Zimmer eine seltsame Behaglichkeit aus. Im Gegensatz zu der Küche erschien Anna dieser Raum mit seinen gelbgestrichenen Wänden und den Südfenstern trotz des grauen Tages geradezu heiter.
    Ein Windstoß fuhr durch eine der zerbrochenen Scheiben und brachte einen zerschlissenen Vorhang zum Tanzen, und genau diesen Moment hatte sich die Sonne ausgesucht, um sich kurz zwischen den Wolken hindurchzukämpfen. Etwas blitzte auf, leuchtend rot – oder war es violett gewesen? Anna kniff überrascht die Augen zusammen und beobachtete den Vorhang, der sie mit seinen Kapriolen heranzuwinken schien. Wieder blitzte es auf, und diesmal gab Anna dem Locken nach und ging zum Fenster. Mit beiden Händen fing sie den leichten, orangefarbenen Stoff ein, auf dem noch vereinzelte Pailletten glitzerten. Kaum berührte sie das dünne Gewebe, jagte ein Kribbeln durch ihren Körper: Sie hatte diesen Vorhang schon einmal gesehen! Suchend irrten ihre Augen von den funkelnden Pailletten zurück in den Raum, doch er gab ihr keinen Anhaltspunkt, und auch der Blick aus dem Fenster berührte sie nicht im mindesten. Ein windgepeitschtes, brettebenes Feld. Ein dunkles Hausdach, zu weit entfernt, als dass sie Details hätte erkennen können. Nicht einmal eine Kuh war zu sehen. Die Sonne verkroch sich wieder hinter den Wolken, und sofort verblasste das strahlende Orange des Vorhangs zu einem schmuddeligen Braunton. Das Glitzern, das Anna so fasziniert hatte, verschwand, und mit dem Glitzern verging auch der seltsame Zauber.
    Während der nächsten Stunde öffnete Anna jede Tür, blickte durch jedes Fenster des verwinkelten Hauses und suchte nach Spuren ihrer Mutter oder dieser seltsamen Laksmi-Ingrid, doch alles, was sie

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