Im Taumel der Herzen - Roman
seine schwarze Hose. Die Hosenbeine hatte er in die Stiefel geschoben. In dieser Aufmachung fiel er unter den einfachen Hafenarbeitern kaum auf, von seinen blitzblank polierten Stiefeln einmal abgesehen.
Es war höchst unwahrscheinlich, dass ihn nach all den Jahren jemand erkennen würde. Als er England damals verließ, war er ein spindeldürrer Siebzehnjähriger gewesen, der noch nicht einmal seine volle Größe erreicht hatte. Ziemlich spät für sein Alter war er noch ein ganzes Stück gewachsen, und dadurch länger dünn geblieben, als ihm lieb gewesen war, aber
irgendwann hatte er dann doch ein wenig zugelegt, so dass man ihn nicht mehr als mager bezeichnen konnte. Außerdem trug auch sein langes schwarzes Haar zu seiner Tarnung bei, da er es so unmodisch trug, wie es nur ging – zumindest nach englischen Maßstäben.
In der Karibik war langes Haar auch bei Männern sehr beliebt, weshalb er es sich hatte wachsen lassen, um nicht aufzufallen. Zwar trug er es nicht zu einem Zopf geflochten wie Ohr, musste es mittlerweile aber im Nacken zusammenbinden, weil es derart lang geworden war, dass es ihn sonst bei seiner Arbeit an Bord behindert hätte.
Für die Dauer seines Aufenthalts in England sollte er es sich eigentlich abschneiden lassen. Derselbe Gedanken war ihm auch schon im Vorjahr gekommen. Aber warum? Er würde nur wenige Wochen bleiben, und er trug sein Haar nun einmal gern lang. Außerdem war es ein Zeichen der Rebellion, mit der er bereits begonnen hatte, bevor er sein Zuhause damals endgültig verließ. Unter dem eisernen Regiment seines Vaters hätte er sein Haar niemals auf diese Art tragen dürfen.
»Lord Allen?«
Richard hatte den Mann nicht kommen sehen, aber als er nun einen schnellen prüfenden Blick in sein Gesicht warf, kam er ihm tatsächlich bekannt vor. Lieber Himmel, womöglich einer von den Taugenichtsen, mit denen er befreundet gewesen war, bevor er England verließ? War tatsächlich der unvorhersehbare Fall eingetreten, dass er mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu tausend erkannt wurde? Was für ein Schlamassel!
»Sie irren sich, Monsieur. Ich bin Jean Paul aus Le Havre.« Er verbeugte sich respektvoll, ließ dabei aber absichtlich sein langes Haar nach vorn über die Schultern fallen, um seine Worte noch plausibler wirken zu lassen. »Mein Schiff ist soeben aus Frankreich eingetroffen.«
Jeder Muskel in seinem Körper war bereit zur Flucht, falls
sein Bluff und sein starker französischer Akzent ihre Wirkung verfehlen sollten, aber der Kerl verzog angewidert das Gesicht. Offenbar ärgerte er sich über sich selbst, weil ihm dieser vermeintliche Fehler unterlaufen war. »Wie schade! Das wäre ein saftiger Brocken für die Klatschmühlen gewesen.«
In der Tat – und Richards Vater hätte erfahren, dass sein Sohn noch am Leben war. Doch der Mann marschierte davon, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Richard wieder richtig durchatmen konnte. Das war knapp gewesen. Und nicht eingeplant. Wenigstens handelte es sich bei dem Kerl nicht um einen wirklich guten alten Bekannten Richards, sodass ihn der andere seinerseits auch nicht eindeutig als Lord Allen identifizieren konnte. Außerdem, so versuchte Richard sich selbst zu beruhigen, hatte er sich seit damals derart verändert, dass ihn außer seinen Familienangehörigen ohnehin niemand mit Sicherheit erkennen würde.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich besser als du darauf verstehe, uns einen fahrbaren Untersatz zu besorgen«, prahlte Margery, als sie zu der Stelle zurückkehrte, wo ihr Gepäck sich stapelte, und den Kutscher anwies, genau dort zu warten. »Wo ist denn Gabby? Immer noch auf dem Schiff?«
Gabrielles Dienstmädchen blickte auf die Themse hinaus, wo die Triton vorerst ankerte. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis das Schiff einen Platz im Hafen zugewiesen bekam. Da der Sommer bevorstand, herrschte an den Hafenanlagen mehr Betrieb als sonst, weshalb durchaus auch die Möglichkeit bestand, dass sie bis zu ihrer Rückreise überhaupt keinen solchen Liegeplatz ergattern würden!
Richard atmete tief durch, schüttelte jeden Rest von Anspannung ab und schenkte dem Dienstmädchen ein keckes Lächeln. »Sie wartet auf Drew. Du weiß ja, wie Schiffskapitäne sind, immer haben sie in letzter Minute noch ein Dutzend
Kleinigkeiten zu erledigen, ehe sie von Bord gehen können. «
Ohr ruderte mit einem Dingi, in dem sich ihr restliches Gepäck türmte, auf die
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