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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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gern getadelte Gewohnheit. Auch wenn er sich nicht daran erinnerte, genau dieses Blatt in seiner Schultertasche mit sich geführt zu haben, so nahm er doch stets mehrere unfertige Blätter auf seine Exkursionen mit, da er meist an etlichen Zeichnungen gleichzeitig arbeitete. Und wie anders hätte Climpsey diese oder irgendeine seiner Zeichnungen an sich bringen sollen, wenn nicht, indem er sie aus seiner Tasche stahl?
    Abermals sah er auf das Blatt hinab, und seine Gedanken schweiften von den ungetreuen Kumpanen zu dem reizvollen Fleck im Park der Gouverneursvilla zurück. Irgend etwas befremdete ihn an dieser Zeichnung, er rückte sogar die fauchende Ölfunzel ein wenig näher, um die Einzelheiten der Skizze besser zu sehen. »Der Besitz dieses Bildes«, hörte er Climpseys spöttische Stimme, »scheint Mr. Thompson so vollkommen zu trösten, daß er weder Beutel noch Pinsel vermißt.« Doch Robert nahm die Hohnworte nur am Rande wahr, wie ihm auch die Gesänge der Betrunkenen in seinem Rücken und die gur gelnden Laute, mit denen Mortimer seinen zweiten oder dritten Rumkrug leerte, nur vage bewußt wurden. Unverwandt starrte er auf das Bild hinab, als wäre es das Werk eines Fremden, und auch nachdem er herausgefunden hatte, was ihn an dieser Zeichnung so sehr erstaunte, blieb er noch längere Zeit in derselben Haltung sitzen, tief über das Blatt gebeugt.
    Es kann ja nicht sein, dachte er wieder und wieder, das Ungewisse Licht hier im Gewölbe foppt mich, oder ist es mein Verstand, der sich verdunkelt hat? Er nahm einen Schluck aus seinem Krug, den er kaum erst angerührt hatte, und zugleich mit dem Rum, der durch seine Kehle herabrann, spürte er, mit untrüglicher Gewißheit, daß er keinem Irrtum, keiner Verwirrung aufgesessen war.
    Der längliche Schattenfleck auf seiner Zeichnung hatte die Umrisse eines liegenden Menschen, genauer gesagt, einer auf der linken Seite liegenden Frau. Das allein war erstaunlich genug, denn als er die Zeichnung angefertigt hatte, war ihm durchaus nicht bewußt gewesen, daß der Schatten irgend etwas anderes darstellen könnte als eben einen länglichen Schatten, wie er sich durch die zufällige Konstellation von Sonnenwinkel und Palmstämmen ergab. Aber noch weit erstaunlicher, ja vollkommen unbegreiflich schien ihm, daß der Schattenriß klar und deutlich das Profil jener jungen Frau zeigte, der er heute gefolgt war, tatsächlich oder im Ohnmachtstraum. Mit dem Nagel seines linken Ringfingers fuhr er die Umrisse behutsam nach: Ihre kräftigen Waden, die sich selbst im Liegen nach außen wölbten, die schlanke, hochgewachsene Gestalt, der üppige Busen, das ein wenig vorgereckte Kinn unter der aufgestülpten Nase - kein Detail ließ sich entdecken, das nicht zu ihr gepaßt hätte, wie umgekehrt keine charakteristische Einzelheit fehlte, nicht einmal die Umrisse des Vogelnestes, zu dem ihr Haar so kunstvoll aufgesteckt war.
    Robert lächelte nun vor Verwunderung, während er auf die Skizze hinabsah, auf den rätselhaften Schattenriß, der von seiner Hand war und doch nicht sein eigenes Werk schien. Dann erst wurde ihm eine weitere Analogie bewußt, die weit offenkundiger war als der winzige Umriß einer aufgestülpten Nase oder die komplizierten Konturen nestförmig aufgesteckten Frauenhaars. Die Gestalt auf seiner Skizze, wen immer sie darstellen mochte, ruhte in genau der gleichen Haltung am Boden, in der Mortimer und Climpsey ihn angeblich vorgefunden hatten, ohnmächtig am Rand jenes Schlammlochs liegend.
    Was auch immer all diese Vorfälle zu bedeuten hatten, Robert fühlte auf einmal, daß sie ihn kräftigten. Als er nun neuerlich aufsah, war sein Blick so entschieden wie der Ton, mit dem er sich an Climpsey wandte. »Meine Tasche, Mr. Climpsey, wo ist sie?«
    Paul Climpsey zog die Schultern hoch. »Sie werden uns doch nicht grollen, Mr. Thompson, wegen unseres kleinen Scherzes?« Er griff unter seinen weiten, unförmigen Umhang, unter dem er jederzeit die absonderlichsten Dinge hervorzuzaubern verstand.
    »Zum Donner, einen Moment noch, Paul.« Mortimers Baß grollte gebieterischer, als Roberts Zorn es jemals vermocht hätte. »Selbstverständlich vergreifen wir uns nicht am Eigentum eines Gentleman. Also soll Mr. Thompson seine Tasche zurückerhalten - wenn er gelobt, sich künftig auch wie ein Gentleman zu betragen.«
    Robert wandte sich zu ihm um. »Wann hätte ich...«
    Doch Mortimer legte nur einen fleischigen Finger auf seine Lippen, eine unerwartet feierliche

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