Im Totengarten (German Edition)
eines Augenblicks fragte ich mich, ob womöglich auch ihre Blindheit eine bloße Lüge war.
»Was hat sie damit gemeint, dass Sie wissen, was der Mann in seiner freien Zeit getrieben hat?«, fragte ich Alvarez, als ich wieder zu ihm in den Wagen stieg.
Er schien zu zögern, so, als müsse er sich seiner Antwort schämen. »Ich bin derjenige, der diesem Typen sein Geständnis abgenommen hat. Vierzehn Stunden lang. Wir hatten ihn abends um elf in einem Pub in Borough festgenommen. Er hatte gerade sein letztes Bier bestellt.«
»Und Sie haben ihn die ganze Nacht gegrillt?«
»Mit ein paar kurzen Pausen.« Alvarez sah geradeaus und balancierte seine Hände auf dem Armaturenbrett.
»War bestimmt ein höllisches Gespräch.«
»Es dauerte zwölf Stunden, ihn zu knacken. Aber in den letzten beiden Stunden hätte ich ihn nicht mal mit Gewalt zum Schweigen bringen können. Da hat er mir detailliert erzählt, was er mit acht der Mädchen angestellt hatte, jede noch so kleine Kleinigkeit.«
»Aber zu den anderen fünf hat er kein Wort gesagt.«
»Er hörte auf zu reden, und das war’s«, gab Alvarez stirnrunzelnd zu. »Und fünf Jahre später hat er sich im Knast erhängt.«
»Mein Gott.«
»Aber wenn sie wollte, könnte diese Hexe uns erzählen, wo genau die fünf begraben sind.«
Ich nahm direkt oberhalb von seinem Kiefer das leichte Zucken eines Muskels bei ihm wahr.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich dachte, das hätten Sie gewusst.« Alvarez starrte mich an. »Ray hatte nur ihre Anweisungen befolgt. Sie hatte genau notiert, wie lange es jeweils dauern und selbst welche Messer er benutzen sollte, als er sie geschnitten hat.«
Ich klappte meine Augen zu, und aus dem Nichts tauchte die Frau mit dem leeren Gesicht und den unscheinbaren Augen vor mir auf. Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, dass sie je genügend Energie besessen hatte, um jemandem Schmerzen zuzufügen. Aber vielleicht hatte sie ja deshalb jemand anderen dazu gebracht, es für sie zu tun.
»Wurden Sie psychologisch betreut, nachdem Sie all das hören mussten?«
Er schüttelte den Kopf. »Das war nicht erforderlich.«
»Natürlich nicht. Denn das wäre una perdida de honor gewesen, stimmt’s?«
Er lachte leise auf. »Los, analysieren Sie mich, Dr. Alice, ich sehe Ihnen an, dass Sie darauf brennen.«
»Posttraumatische Belastungsstörung«, sagte ich. »Aber das wussten Sie bereits, nicht wahr? Denn Sie haben zu Ihren Symptomen im Internet recherchiert.«
Er schüttelte den Kopf und lehnte sich in seinem Sitz zurück. »Wirklich clever. Aber leider liegen Sie total daneben. Und jetzt gehe ich davon aus, dass ich Sie nach Hause fahren soll.«
Auf der Fahrt zurück zu meiner Wohnung sprachen wir nicht mehr. Mein Schädel war damit beschäftigt, sich zu reinigen und zu sortieren, und als wir den Platz vor meinem Haus erreichten, dankte ich dem Mann fürs Fahren und streckte die Hand nach meinem Türgriff aus.
Der sich nicht bewegen ließ.
»Das Schloss auf Ihrer Seite ist kaputt.«
Er beugte sich über mich und presste dabei seine Schulter gegen meinen Arm. »Man braucht nur etwas Kraft, sonst nichts.«
Sein Gesicht war mir so nah, dass ich seine Wange hätte küssen können, ohne auch nur einen Muskel zu bewegen. Aber ich erinnerte mich schwach an meinen Grundsatz, niemals etwas mit verheirateten Männern anzufangen, und als meine Tür sich endlich öffnen ließ, sprang ich eilig aus dem Wagen und sagte auf Wiedersehen, bevor ich es mir anders überlegte.
10
Als ich mich am nächsten Morgen aus der Falle hievte, waren Lolas Sachen überall verteilt. Ihr violetter Schal hing über einem Stuhl im Flur, ein Paar Stiefel aus Leopardenfell lag neben der Couch, und die Arbeitsplatte in der Küche war mit zahlreichen Kartons mit chinesischen Essensresten übersät. Offenkundig fühlte meine Freundin sich hier in der Wohnung bereits heimischer als ich. Auf jeden Fall heimisch genug, um eine Spur von Glitzerschmuck im Bad zu hinterlassen und problemlos an den Rest meiner teuersten Gesichtscreme zu gehen. Trotzdem schaffte ich es nicht, ihr Vorwürfe zu machen, als sie aus dem Gästezimmer kam. Weil sie sich unglaublich freute, mich zu sehen.
»Al! Wo hast du gesteckt?« Mit dem Meer aus dunkelroten Locken, das auf ihre Schultern floss, wirkte Lola gleichermaßen prachtvoll wie zerzaust.
»Das willst du gar nicht wissen.«
»Doch.« Lola setzte sich auf einen Küchenstuhl und schlang die Arme um ihre angezogenen Knie.
»Ich habe meine Zeit
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