Im Totengarten (German Edition)
interessieren sich für Ray, nicht wahr?«
»Ich hätte gerne so viele Details, wie Sie mir geben können.«
»Ich weiß, worum es Ihnen geht.« Der Blick aus ihren ausdruckslosen Augen glitt an mir vorbei. »Ich habe von der Sache auf dem Crossbones Yard in den Nachrichten gehört.«
»Waren Sie schon mal dort, Marie?«
»Na klar, schließlich habe ich ganz in der Nähe gewohnt. Das ist der Nuttenfriedhof, stimmt’s?«
»Nicht ganz. Es ist einfach ein Stück nicht geweihter Erde, in der die Leichen von Sexarbeiterinnen abgeladen wurden, weil die Kirche mit ihrer Arbeit nicht einverstanden war. Es gibt dort keine Grabsteine, und die Gräber waren nicht mal nummeriert.«
Bensons Miene blieb auch weiter völlig ausdruckslos, aber ihre Körpersprache war verräterisch. Sie beugte sich begierig vor, als hoffte sie auf irgendeinen exklusiven Klatsch.
»Erzählen Sie mir von dem Heim, Marie. Ich habe gehört, Sie hätten dort kaum jemals ein freies Bett gehabt. All die Obdachlosen müssen sich dort wie im Himmel vorgekommen sein.«
Sie setzte ein schmales Lächeln auf und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Wissen Sie, wie viele Leute im Verlauf der Jahre in der Hoffnung, irgendwas aus mir herauszukriegen, zu mir zu Besuch gekommen sind, Dr. Quentin?«
»Wahrscheinlich Dutzende.«
»Eher Hunderte. Polizisten, Seelenklempner, Journalisten. Und es ist noch schlimmer, seit Ray nicht mehr am Leben ist. Weil man jetzt nur noch mich mit Fragen bombardieren kann.«
»Wer hat alles davon gewusst, Marie?«
»Wovon?«
»Von Ihren besonderen Regeln. Davon, dass die Mädchen geknebelt und mit verbundenen Augen, ohne Nahrung und selbst ohne Wasser im Dunkeln gefangen gehalten wurden, und von all den kleinen Narben. Sie haben irgendwem davon erzählt, nicht wahr? Weil man eine solche Last ganz einfach nicht alleine tragen kann.«
»Ich hatte von alldem keine Ahnung, Dr. Quentin«, wisperte sie rau. »Ray hat das Heim geführt und mir erzählt, diese Mädchen hätten kurzerhand ihr Zeug gepackt und wären wieder abgehauen. Ich habe mich die ganze Zeit vor ihm geduckt, gekocht, die Fußböden geschrubbt und die Betten frisch bezogen, weiter nichts. Der Keller war Rays Reich. Er hat da unten Möbel gebaut, als wir frisch verheiratet waren, aber er hat mir nie erzählt, wo er den Schlüssel aufbewahrt.«
Bensons Worte klangen wie ein Mantra. Vielleicht hatte sie sie so häufig wiederholt, dass sie sie inzwischen selbst glaubte.
»Fünf Mädchen wurden bis heute nicht gefunden, stimmt’s, Marie?«
»Das hat man mir erzählt.« Ihre Hand flog an ihr Kruzifix. »Aber wie soll ich Ihnen sagen, wo sie sind, wenn ich es nicht weiß?«
»Das Kreuz tröstet Sie, nicht wahr?«
»Ich werde es auch dann noch tragen, wenn sie mich beerdigen.« Sie bedeckte das Schmuckstück schützend mit der flachen Hand. »Es erinnert mich daran, dass ich niemals alleine bin.«
»Und was ist mit Ihrem Mann, Marie, haben Sie ihn vor seinem Tod noch mal gesehen?«
»Das hat der Richter nicht erlaubt. Wir durften uns nicht sehen und auch nicht telefonieren. Er meinte, dass wir eine tödliche Verbindung sind.« Die Vorstellung schien sie zu amüsieren. »Aber das ist ja wohl total lächerlich. Ich habe mich abgerackert in dem Heim, und niemand hat es mir jemals auch nur mit einem Wort gedankt.« Sie verzog so traurig das Gesicht, als warte sie noch immer auf ein Lob.
»Wir sollten Sie jetzt lieber wieder in Ruhe lassen.«
»Wenn Sie wollen, lassen Sie doch einfach Sergeant Alvarez noch etwas hier.« Sie wandte sich ihm zu, setzte ihr schönstes offenmundiges Lächeln auf und versuchte, ihn aus ihren blinden Augen anzusehen.
Alvarez’ Gesichtsausdruck wurde noch grantiger als sonst.
»Sie haben Pech, Marie«, erklärte ich. »Er ist verheiratet.«
»Das ist natürlich bedauerlich.«
»Hier ist meine Karte. Rufen Sie mich, wenn Sie reden möchten, einfach an.« Ich legte ihr die Visitenkarte in die ausgestreckte Hand, hütete mich aber davor, direkt mit ihr in Berührung zu kommen.
»Vielleicht tue ich das. Weil dann die Zeit schneller vergeht.«
Als wir uns zum Gehen wandten, wirkte sie enttäuscht. Weil in ihrer Lage jeder wie auch immer geartete menschliche Kontakt wahrscheinlich besser war als nichts.
»Sie sollten nicht mit mir reden«, rief sie mir hinterher, als ich die Tür aufzog. »Sergeant Alvarez weiß ganz genau, was Ray in seiner freien Zeit getrieben hat.«
Plötzlich blickte sie mir direkt ins Gesicht, und während
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