Im Totengarten (German Edition)
mit einer gemeingefährlichen Psychopathin vergeudet«, klärte ich sie auf.
»Das ist ja wohl ein Witz.«
»Unglücklicherweise nicht. Ich musste gestern Marie Benson für die Polizei befragen.«
»Gott, wie unheimlich.«
»Das ist noch untertrieben.« Ich stellte ihr einen Becher Kaffee hin. »Sie kam mir wie ein Alien vor. Und was hast du gemacht?«
»Nicht viel.« Sie stützte ihren Kopf auf ihre Hand, als wäre er zu schwer. »Ich habe für eine Rolle im Covent Garden vorgetanzt.«
»Und, hattest du Glück?«
»Ich glaube, der Regisseur hat mich gemocht. Aber bisher habe ich noch keinen Piep von ihm gehört.«
Ich hob meinen Becher an den Mund. »Dann wird er sich heute bei dir melden, garantiert.«
»Das hier ist übrigens für dich.« Lola wühlte in dem Stapel Werbepost, der vor ihr auf dem Tisch lag, bis sie einen weißen Umschlag fand und neben meinem Becher fallen ließ. »Eigentlich wollte ich ihn unter deiner Zimmertür durchschieben.«
»Scheiße. Der ist von ihm.«
»Von wem?«
»Von diesem Verrückten, der mir schon mal eine Todesdrohung hat zukommen lassen.«
»Meine Güte, Al, warum hast du mir nichts davon erzählt?« Sie riss mir den Umschlag aus der Hand und sah ihn sich genauer an. »Seltsame Schrift für einen Kerl. Genau so schreibt meine Tante auch. Sie ist derart verklemmt, dass jedes Wort perfekt sein muss. Sonst zerreißt sie das Blatt und fängt noch mal von vorne an.«
Sie schlitzte den Umschlag mit einem langen scharlachroten Fingernagel auf, und ihre bisher neugierige Miene wich einem Ausdruck des Entsetzens, als sie das Schreiben überflog.
»Meine Güte, Al. Dieser Typ ist total krank.«
»Los, ließ ihn mir bitte vor. Mit dem ersten Brief musste ich ganz alleine fertig werden, das war alles andere als angenehm.«
»Wenn’s sein muss.« Lola atmete tief durch, fing dann aber zu lesen an.
Liebe Alice,
bildest du dir allen Ernstes ein, du könntest die Abgründe überwinden, die die Gehirne deiner Patienten und Patientinnen durchziehen? Wie solltest du das schaffen? Schließlich machst du selbst allen etwas vor. Du bist schwächer als sie, nur ein kleines Mädchen, das auf hochhackigen Schuhen durch die Gegend stakst, in denen es nicht mal richtig gehen kann. Du willst mir weh tun, Alice, und dafür wirst du bezahlen. Bisher weißt du nicht, wie sich echte Schmerzen anfühlen. Aber du wirst es schon bald verstehen.
Zitternd legte Lola das Papier auf die Anrichte zurück.
»Um Himmels willen, wer schreibt dir so was?«
»Das weiß nur der liebe Gott.«
»Der Typ ist ein Stalker, Al.« Vor lauter Panik wurden Lolas grüne Augen kugelrund. »Er hat deine Adresse, und er sagt, dass er dir weh tun will. Versprich mir, dass du damit zur Polizei gehst.«
Ich hob beschwichtigend die Hände hoch. »Also gut, okay.«
»Und zwar noch heute. Versprich es mir.«
Nach einer dramatischen Pause schenkte Lola sich noch einmal frischen Kaffee nach und verschwand wieder in ihrem Zimmer, noch bevor ich die Gelegenheit bekam, ihr zu beichten, dass ich drauf und dran gewesen war, Alvarez zu küssen, als er mir beim Aussteigen behilflich gewesen war.
Ich schnappte mir das Telefon und wählte die Nummer des Reviers, als plötzlich ein Klopfen aus Richtung der Wohnungstür an meine Ohren drang. Ich sah durch den Spion, wich einen Schritt zurück und vergewisserte mich durch einen erneuten Blick, dass der Mensch dort vor der Tür wirklich mein Bruder war. Er wirkte wie ein völlig neuer Mensch. Die saubere schwarze Hose und die schicke Jacke, die er trug, hatte ich noch nie gesehen, und selbst sein Gesicht sah vollkommen verändert aus. Sein dunkelblondes Haar war frisch geschnitten, und er hatte sich sorgfältig rasiert. Zwar flackerten seine roten Augen immer noch nervös, aber niemand käme je auf die Idee, dass er in einem alten VW-Bus hauste.
»Mein Gott, Will, du siehst phantastisch aus! Mindestens zehn Jahre jünger.«
»Danke.« Er sah mich mit einem ängstlichen Lächeln an.
»Wo hast du diese Sachen her?«
»Aus der Kleiderkammer. Lola war gestern mit mir dort.« Er strich sich verlegen mit der Hand über die Stirn. »Und ihre Freundin hat mein Haar geschnitten.«
»Sie hat einen völlig anderen Mann aus dir gemacht.« Ich berührte flüchtig seine Schulter und spürte sein Schlüsselbein, das nur von einer dünnen Hautschicht überzogen war.
Will nestelte in seiner Tasche und zog einen Beutel Tabak und ein Päckchen Streichhölzer hervor. Ich hatte den Kampf gegen das
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