Im Totengarten (German Edition)
herausgefordert, um zu sehen, wann er konditionell an seine Grenzen kam.
Ich konnte nicht vorhersehen, was für eine Frau im Besucherzimmer auf uns warten würde, war jedoch bereits in meiner Kindheit davon überzeugt, dass jedem Menschen sein ganzes Leben ins Gesicht geschrieben stand. Man musste es nur eingehend genug studieren, um ihm all die Taten, die er je begangen hatte, anzusehen.
Marie Benson hatte sich verändert, seit ihr Foto sechs Jahre zuvor in allen Klatschblättern gewesen war. Damals hatte sie mit ihrer Zahnlücke, die, wenn sie lächelte, zum Vorschein kam, ihrem blondierten Haar und ihrer Vorliebe für freizügige Dekolletés wie eine typische Kneipenwirtin ausgesehen.
Daran erinnerte jetzt nichts mehr.
Als sie in unsere Richtung sah, war ihr Gesicht vollkommen ausdruckslos. Es gab keinen Hinweis auf die Morde, die die Frau begangen hatte, und auf all die Lügen, mit denen sie gehofft hatte, ihrer Strafe zu entgehen. Vielleicht war sie einfach erschöpft, oder vielleicht hatte sie auch so lange in Einzelhaft gesessen, dass sie einfach nicht mehr wusste, wie man sich verhielt, wenn man auf andere Menschen traf. Ihr graues, schlechtgeschnittenes Haar stand wirr von ihrem Kopf ab. Sie konnte nicht älter als fünfzig sein, wirkte aber schon wie eine dieser alten Frauen, die in den Aufenthaltsräumen von Altersheimen irgendwelche anspruchslosen Fernsehserien verfolgten.
Ihr Blick flackerte kurz in meine Richtung, als ich ihr erklärte, wer ich war. »Und wen haben Sie da bei sich?«
»DS Alvarez, Marie. Sie erinnern sich doch noch an mich, nicht wahr?«
»Wie könnte ich Sie je vergessen?« Sie bauschte sich die Haare auf und faltete danach die Hände ordentlich wie ein Paar Handschuhe in ihrem Schoß.
Als ich Platz nahm, fiel mir auf, dass ihr Blick nicht einen Augenblick fest irgendwo verankert war, und mir wurde bewusst, dass sie wahrscheinlich kaum noch etwas sah.
»Also, worum geht’s?« Jahrelanges Rauchen hatte Bensons Stimme einen rauen Klang verliehen. Sie legte ihren Kopf ein wenig schräg und spitzte ihre Ohren, damit sie jede noch so winzige Nuance meiner Stimme mitbekam.
»Keine Angst, Marie. Die Polizei hat mich gebeten, einmal mit Ihnen zu sprechen, weiter nichts.«
Sie stieß ein lautes, irgendwie nasales Lachen aus, und ich erhaschte einen Blick auf die Person, von der die Journalisten über Monate hinweg so fasziniert gewesen waren. Sicher hatte sie ihr seltsames, ein bisschen schiefes Lächeln damals eingesetzt, um die Menschen in ihren Bann zu ziehen.
»Ich habe schon längst vor nichts mehr Angst, Doktor«, klärte sie mich auf und berührte kurz das kleine, goldene Kruzifix an ihrem Hals. »Ich habe alles, was ich brauche.«
»Wie kommen Sie in Rampton klar?«
Benson hielt das Kreuz zwischen ihren Fingerspitzen fest, als wäre ich ein böser Geist, zu dem sich nur mit Hilfe ihrer Frömmigkeit genügend Abstand halten ließ.
»Könnte schlimmer sein. Sie lassen mich in die Kirche gehen, und ich habe ein Radio, damit ich weiß, was in der Welt passiert. Und dann liest mir noch manchmal eine von den anderen Frauen etwas vor.«
Seit Anfang des Gesprächs hatte sie sich kaum bewegt, und auch ihre Hände lagen weiterhin ordentlich in ihrem Schoß. Sie hatte ihren Körper vollkommen unter Kontrolle, und im Gegensatz zu vielen anderen Menschen hielt sie Stille offenbar problemlos aus. Die meisten von uns füllen jede Lücke in einem Gespräch mit unnötigen Worten aus, sie jedoch benahm sich wie ein wohlerzogenes Kind und sagte nur etwas, wenn man sie darum bat.
»Aber Sie versuchen immer noch, wieder auf freien Fuß zu kommen, stimmt’s? Sie beteuern immer noch, dass Sie unschuldig verurteilt worden sind.«
Abermals stieß sie ein lautes, hämisches Lachen aus. Lachen schien ihr einziger Impuls zu sein, der sich nicht nach Belieben unterdrücken ließ.
»Ich kann meine Unterstützer schwerlich daran hindern, ihre Petitionen zu verfassen, wenn sie wollen. Aber deswegen sind Sie ja wohl nicht hier.«
Einen Augenblick lang tat sie mir beinah leid. Die Blindheit machte sie verletzlich, und obwohl ihr klar sein musste, dass wir sie eingehend musterten, hatte sie keine Möglichkeit, sich unseren Blicken zu entziehen. Vielleicht hatte sie ja deshalb diesen maskenähnlichen Gesichtsausdruck perfektioniert.
»Ich würde gern mit Ihnen über das Heim reden, wenn das für Sie in Ordnung ist.«
»Das ist ja mal ganz was Neues.« Sie verzog verächtlich das Gesicht. »Sie
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