Im Totengarten (German Edition)
Pais und lernte meine Mutter kennen.«
»Und was machte die?«
»Sie stammt hier aus London und studierte damals Sprachen an der Universität.«
»Dann ist Ihre negative Einstellung gegenüber allem Englischen also nur eine Masche. Weil Sie in Wahrheit selbst Brite sind.«
»Das habe ich auch nie geleugnet.« Abermals sah er mir ins Gesicht. »Sie haben voreilige Schlüsse gezogen, Alice, weiter nichts. Ich habe lange Zeit in Spanien gelebt, kam aber schon als Teenager hierher.«
Er lehnte sich gegen die Armlehne von meinem Stuhl und war mir nah genug, dass ich seine dichten schwarzen Wimpern sehen konnte.
Zum Glück waren wir beide nicht allein. Er richtete sich wieder auf, und ich atmete erleichtert auf. Es störte mich, dass dieser Mann eine solche Wirkung auf mich hatte, und zwar sogar, wenn ich völlig nüchtern war.
»Jetzt sind Sie dran«, meinte er. »Erzählen Sie mir die Geschichte Ihres Lebens. Ich weiß bisher überhaupt nichts über Sie.«
»Unsinn. Sie haben sogar die Namen und Adressen aller Männer, denen ich jemals hallo gesagt habe.« Ich runzelte die Stirn. »Und bilden Sie sich bloß nicht ein, dass ich Ihnen verziehen hätte.«
»Keine Angst, das tue ich auch nicht.« Er sah mich etwas länger als nötig an.
»Was wollen Sie überhaupt wissen?«
»Alles, und zwar von Anfang an.« Er wirkte derart aufmerksam, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn er im nächsten Moment ein Notizbuch aus der Tasche seiner Jeans gezogen und sich Stichpunkte gemacht hätte.
Ich atmete tief ein. »Nun, aufgewachsen bin ich in Blackheath.«
»Schick, schick.«
»Nicht wirklich.« Ich starrte auf meine umgedrehte Hand, die auf dem Tisch lag wie ein gestrandeter Fisch an Land. Aus irgendeinem Grund brachte ich nur noch mit Mühe einen Ton heraus.
»Das ist alles, was Sie über Ihre Kindheit sagen können? Dieser eine kurze Satz?«
»Um Himmels willen, das hier ist eine Dinnerparty«, fauchte ich ihn an, und er zog überrascht die Brauen hoch.
»Genau das machen Leute auf Partys, Alice. Sie erzählen von sich selbst und lernen einander kennen.«
Ich kreuzte die Arme vor der Brust. »Da gibt’s nichts zu erzählen. Meine Eltern waren nicht glücklich, und dann wurde alles ziemlich kompliziert. Schluss, aus.«
»Und Ihr Bruder steckte mittendrin?«
»So in etwa, ja.«
»Seltsam, dass Sie nicht gerne reden.« Alvarez bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick. »Sie sammeln die Geschichten anderer Leute, aber Sie erzählen Ihre eigene Geschichte nicht.«
»Weil ich das nicht will«, klärte ich ihn auf. »Ich führe den ganzen Tag Gespräche, und wenn ich nicht mehr im Dienst bin, will ich laufen und tanzen und essen und –«
»Und was?«
»Dann will ich in meinem Körper leben, nicht in meinem Kopf.«
Er sah mich aus zusammengekniffenen Augen an, und unter der Tischplatte glitt seine Hand über meinen Oberschenkel und schob vorsichtig den Stoff von meinem Kleid zurück.
Ich atmete keuchend ein, und er drückte mir die Hand. »Kommen Sie, verschwinden wir von hier.«
»Wir können ja wohl unmöglich schon vor dem Nachtisch gehen.«
»Oh doch, das können wir.«
Und dann ging alles furchtbar schnell. Alvarez bahnte sich einen Weg um den vollbesetzten Küchentisch herum, flüsterte Tejo irgendwas ins Ohr, und sie blickte mich lächelnd an und tätschelte aufmunternd seinen Arm. Dann sagten wir auf Wiedersehen, und die Gesichter der anderen Gäste drückten alle möglichen Gefühle aus. Kyoko strahlte wie ein Honigkuchenpferd, die brünette Frau hingegen guckte so entrüstet, als hätte ich ihr ihren Verlobten ausgespannt.
Es war das reinste Wunder, dass wir es noch bis zur Haustür schafften, ohne uns noch einmal zu berühren. Draußen versanken wir allerdings in einem nicht endenden Kuss. Es war etwas völlig anderes als mit Sean: Ben küsste mich mit einer Intensität, als könnte er nie aufhören, ganz egal, was auch geschah. Gleichzeitig nestelten seine Hände am Verschluss von meinem Kleid.
»Dafür könntest du verhaftet werden«, raunte ich ihm zu.
»Das wäre es auf alle Fälle wert.« Dann vergrub er sein Gesicht in meinem Nacken, legte mir die Hände um die Taille und blickte mich fragend an. »Und wo gehen wir jetzt hin?«
»Zu dir?« Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, da es im Schatten lag.
»Da sieht es gerade furchtbar aus. Lass uns zu dir gehen, ja?«
»Nie im Leben. Auf dem Platz treiben sich schließlich ständig irgendwelche Kollegen von dir rum.«
Er schüttelte
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