Im Totengarten (German Edition)
auf, das andere jedoch sah furchtbar aus, da sowohl der Schienbein- als auch seine Oberschenkelknochen vollkommen zertrümmert waren. Selbst wenn ein erfahrener Chirurg ihn operierte, würde es Monate dauern, bis er auch nur stehen könnte.
Zitternd trat ich wieder in den Flur hinaus und war bereits auf halbem Weg den Gang hinab, als mir einfiel, dass ich ohne auch nur ein Wort des Abschieds gegangen war. Meine Mutter saß noch in genau derselben Position wie vorher auf der Bank und hielt ihre teure Handtasche so fest umklammert, als hätte sie Angst, dass irgendwer sie ihr entriss. Es schien ihr zu widerstreben aufzustehen, aber schließlich folgte sie mir durch den Korridor bis zu dem Raum, in dem mein Bruder lag.
Der Platz im Zimmer reichte gerade für sein Bett, einen Sauerstofftank und den Diamorphin-Tropf, an den er angeschlossen war. Er schlief tief und fest, hatte das bleiche Gesicht ins Kopfkissen gedrückt, und ein Metallgestell schützte seine zerstörten Beine vor dem Gewicht der Decke, unter der er lag.
»Ist er bei Bewusstsein?«, fragte meine Mutter mich im Flüsterton.
»Er ist bis morgen früh sediert«, antwortete ich, und sie musterte schweigend sein Gesicht.
»Ich habe dir vertraut, Alice«, stellte sie mit leiser Stimme fest.
»Was?«
»Er hat seinen Bus vor deinem Haus geparkt«, zischte sie erbost. »Er wollte, dass du ihm hilfst, aber du hast nicht das Geringste für ihn getan.«
»Dann ist also alles meine Schuld?«
Die grauen Augen meiner Mutter glitzerten wie nasse Kieselsteine. »Er hat sich an dich gewandt, Alice, und nicht an mich.«
»Verdrängung«, murmelte ich.
»Wie bitte?« Meine Mutter reagierte so empört, als hätte ich sie wüst beschimpft. Sie hatte ihren Wutanfall genossen, aber dieses eine Wort hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht.
»Du hast uns schon nicht beschützt, als wir noch Kinder waren, und auch jetzt ist es mal wieder einfacher für dich, jemand anderem die Schuld zu geben. Irgendwem, Hauptsache, du selbst bist wieder mal fein raus.«
»Sprich nicht von damals, Alice.« Sie versuchte, nicht zu schreien. »Dies ist wohl kaum der rechte Augenblick dafür.«
»Genau.«
Will wälzte sich unruhig in seinem durch Medikamente hervorgerufenen Schlaf, als nähme er die Spannung zwischen uns in seinen Träumen wahr. »Fahr nach Hause, Mum. Du kannst hier sowieso nichts tun.«
Obwohl sie der Form halber protestierte, war ihr deutlich anzusehen, dass sie sich verzweifelt danach sehnte, wieder in ihren Wagen zu springen und den Zitronenduft des Lufterfrischers einzuatmen, der immer an ihrem Spiegel hing.
Nachdem sie gegangen war, setzte ich mich zu Will, obwohl es Stunden dauern würde, bis er wieder zu sich käme, und starrte ihn an. Seine Wangenknochen traten noch deutlicher als sonst hervor, und die Ringe um seine Augen kamen mir noch schwärzer als gewöhnlich vor. Ich drückte seine Hand, und obwohl seine Lider flatterten, war er für irgendeine andere Reaktion viel zu tief in der Bewusstlosigkeit versunken.
Als ich wieder vor die Zimmertür trat, sah ich, dass Don Burns am Ende des Korridors mit einer Krankenschwester sprach. Seine Silhouette, grau und rund, war unmöglich zu übersehen, denn sie blendete das Licht der Deckenlampe praktisch völlig aus. Ehe er mich entdecken konnte, flüchtete ich kurzerhand ins Treppenhaus.
Draußen vor der Tür sog ich gierig die frische Luft in meine Lungen ein. Es war kurz nach drei, und mein Gehirn stellte allmählich seine Arbeit ein. Es wäre am vernünftigsten gewesen, hinüber zu dem Taxistand am Great Maze Pond zu gehen, aber ich wandte mich in die entgegengesetzte Richtung, holte etwas Geld an einem Automaten in der Borough High Street und marschierte weiter, bis ich in die Gegend kam, in der Seans Apartment lag. Im Angel Pub war niemand mehr zu sehen. Offenbar lag sogar der Wirt inzwischen in der Falle, denn es brannte nirgendwo auch nur das allerkleinste Licht.
Ich nahm auf der Backsteinmauer Platz und wartete. Mehrere Fahrzeuge fuhren im Schritttempo an mir vorbei, und ein Mann kurbelte sogar sein Fenster herunter und fragte nach meinem Preis.
»Verpiss dich«, brüllte ich ihn an, und mit zornigem Reifenquietschen brauste er davon.
Zwanzig Minuten später tauchte die Person, auf die ich gewartet hatte, auf. Ganz in meiner Nähe hielt ein nagelneuer gelber Sportwagen und spuckte sie aus. Vielleicht hatte ja irgendein Geschäftsmann sich ein bisschen harten Sex gegönnt, während seine Frau bei ihren
Weitere Kostenlose Bücher