Im Totengarten (German Edition)
Parkplatz gefunden. Jemand hat ihn schreien gehört und einen Krankenwagen gerufen.« Sie presste sich die Hand vor den Mund, als wollte sie sich daran hindern, weiterzusprechen.
Ich zwang mich, tief durchzuatmen, denn sonst hätte ich wahrscheinlich laut geschrien. »Sag mir einfach, was du weißt, Mum.«
»Wie gesagt, sie haben ihn zum Röntgen gebracht. Ich habe ihn noch nicht gesehen.« Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos, aber im grellen Neonlicht der Deckenlampen waren die Falten und die Altersflecken, die sie für gewöhnlich so geschickt vor aller Welt verbarg, überdeutlich zu sehen. »Die Polizei fragt immerzu, ob er schon wieder bei Bewusstsein ist, damit sie ihn vernehmen kann. Was in aller Welt ist mit ihm passiert, Alice?«
Einen Augenblick erwog ich, ihr die ganze grässliche Geschichte zu erzählen: dass ich innerhalb von nur zwei Wochen über zwei Frauenleichen gestolpert war und irgendein Psychopath mir Liebesbriefe zuschickte.
Dann aber schüttelte ich nur den Kopf. »Nichts, Mum. Nichts.«
Sie wollte gerade anfangen zu streiten, als eine vertraute Stimme an meine Ohren drang. Ich habe keine Ahnung, weshalb mich das überraschte. Sicher hatte Sean einfach an diesem Abend Dienst.
Er stand dort in seinem Lieblingsmaßanzug und blickte mich verwundert an. »Ich wusste nicht, dass man dich herbestellt hat, Alice.«
»Hat auch niemand. Ich bin wegen meines Bruders hier.«
Es dauerte einen Moment, bis er begriff und wieder ganz der unfehlbare Mediziner war.
»Können wir uns wohl bitte kurz unter vier Augen unterhalten?« Er beugte sich zu uns herab und wandte sich respektvoll meiner Mutter zu. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs Quentin, Ihr Sohn ist bei uns in den allerbesten Händen.«
Es schien meine Mutter zu erleichtern, dass er ihr die medizinischen Details ersparte. Sie war immer schon ein bisschen zimperlich gewesen. In meiner Kindheit hatten wir fast täglich Fleisch gegessen, aber sie hatte sich stets geweigert, es mit bloßen Händen zu berühren, und die bereits vom Fleischer in ordentliche rote Würfel geschnittenen Stücke unter einer dicken Schicht aus Zellophan im Kühlschrank aufbewahrt.
Sean führte mich in sein Sprechzimmer neben dem Operationssaal eins. Alte Rockmusik – Aerosmith oder Bon Jovi – hämmerte hinter der Wand. Um seine Assistenzärzte zu ärgern, spielte einer der Chirurgen immer möglichst grässliche Musik. Sean sah mich verlegen an. Vielleicht wusste er nicht, ob er mich wie die Verwandte eines Patienten oder wie jemanden behandeln sollte, mit dem er über Monate hinweg fast jeden Tag im Bett gewesen war.
»Hör zu, Sean, bitte sag mir einfach, was passiert ist.«
Er stopfte die Hände in die Taschen seines Jacketts. »Sein Zustand ist zwar ernst, aber stabil.«
Ich atmete erleichtert auf. Zumindest schien Wills Zustand nicht lebensbedrohlich zu sein.
»Aber wir werden ihn mehrmals operieren müssen. Sein Rücken ist okay. Erst hatte ich Angst, dass er eine Lendenwirbelfraktur davongetragen hat. Aber wir können ihn unmöglich noch heute Nacht operieren.«
»Und warum nicht?«
»Erst brauchen wir seine Blutwerte aus dem Labor.« Er sah mir wieder ins Gesicht. »Als er hier eingeliefert wurde, hat er halluziniert. Weißt du, was er genommen hat?«
Ich atmete tief ein. »Heroin, Methadon, Ketamin, Methamphetamin. Alles, was du dir vorstellen kannst. Er ist ein wandelndes pharmazeutisches Labor.«
»Meine Güte, Alice.« In seinem Gesicht mischten sich Zorn und Frustration. »Verdammt noch mal, warum hast du mir nie etwas davon erzählt?«
Ich brachte keinen Ton heraus. Ich war es einfach leid, darüber zu reden, denn ich hatte schon mit einer ganzen Armee von Ärzten, Sozialarbeitern, Drogenberatern und Bewährungshelfern darüber diskutiert. Es hatte mich bereits genug geschmerzt, alles hilflos mit ansehen zu müssen, als verfolge man täglich aufs Neue wie in Zeitlupe mit, wie stets derselbe Zug Wagen für Wagen aus den Schienen sprang.
»Willst du die Röntgenbilder sehen? Sie sind allerdings kein schöner Anblick.« Sean schaltete den Lichtkasten an der Wand hinter dem Schreibtisch ein, und ich zuckte zusammen, als ich die Aufnahmen sah. Während ich sie anstarrte, betrachtete er mich stumm. »Dein Bruder konnte uns nicht sagen, was passiert war, aber das Ausmaß der Schäden deutet darauf hin, dass der Sturz aus einer ziemlichen Höhe erfolgt sein muss.«
Ich zwang mich, mir die Bilder noch mal anzusehen. Ein Bein wies zwei glatte Brüche
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