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Im Totengarten (German Edition)

Im Totengarten (German Edition)

Titel: Im Totengarten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Rhodes
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Eltern war. Wieder trug Michelle High Heels und einen schwarzen Lederminirock. Sie hatte bestimmt im Internet geguckt, in welchem Outfit man den höchsten Preis erzielte.
    »Sie können sich wahrscheinlich nicht an mich erinnern, oder?«, fragte ich.
    Sie sah mir forschend ins Gesicht. »Sie sind hoffentlich keine verdammte Sozialarbeiterin.«
    »Wir haben uns letzte Woche unterhalten, als ich laufen war.«
    »Oje, jetzt fällt’s mir wieder ein. Ich hatte schon Angst, Sie kratzen mir ab.« Sie zündete sich eine Zigarette an und sog den Rauch so lange und so tief in ihre Lungen ein, als wäre er lebenswichtiger als Sauerstoff. »Dann hat Ihnen unser kurzer Plausch anscheinend Spaß gemacht.« In dem eingefallenen, kreidigen Gesicht sahen ihre Pupillen groß wie Untertassen aus. Sie wirkte wie ein Kind, das tagelang sich selbst überlassen worden war. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass noch immer irgendwelche Wagen im Schritttempo an uns vorbeifuhren, deren Fahrer durch die offenen Fenster das Angebot prüften und dann langsam weiterfuhren.
    »Es ist so, Michelle – mein Bruder wurde heute Nacht verletzt.«
    »Ach ja?« Sofort stiegen in ihren Augen Tränen auf. Wie man sich immun für die Sorgen anderer machte, wusste sie anscheinend nicht.
    »Es wird Wochen dauern, bis er aus dem Krankenhaus entlassen werden kann.«
    »Hier laufen wirklich jede Menge kranker Typen rum.« Sie sah sich ängstlich um, als wollte sie sich vergewissern, dass nicht irgendwo ein Lauscher stand. »Wie zum Beispiel dieser Typ, der gestern meine Freundin aufgegabelt hat. Er hat ständig irgendwelches fürchterliches Zeug zu ihr gesagt.«
    »Was für fürchterliches Zeug?«
    »Dass er ihr weh tun würde und dass sie es nicht verdient hat, am Leben zu sein. Sie musste um sich schlagen, damit er sie gehen ließ.«
    »Aber trotzdem stehen Sie noch hier draußen rum.«
    »Ich habe keine andere Wahl.« Sie starrte vor sich hin, und ein Vorhang schwarzgefärbter Haare hing ihr dabei ins Gesicht.
    »Fahren Sie nach Hause.« Ich zog hundert Pfund aus meiner Tasche und hielt sie ihr hin. »Nehmen Sie ein Taxi. Hier ist es nicht sicher, weder für Sie noch für Ihre Freundinnen.«
    Nach kurzem Zögern steckte sie die Scheine ein. Trotzdem war ihr Blick noch immer unsicher, als könnte sie einfach nicht glauben, dass ihr jemand irgendetwas ohne Gegenleistung gab.
    »Sagen Sie mir noch mal Ihren Namen.«
    »Alice.«
    »Sie sind ein Engel, Alice. Tausend Dank.« Sie schlang mir die Arme um den Hals, stakste dann auf ihren hochhackigen Schuhen wie ein kleines Kind, das noch nicht wusste, wie man darin lief, zur Nachtbushaltestelle, drehte sich noch ein paarmal zu mir um und winkte mir zum Abschied zu.
    Ich saß auf der Mauer, sammelte die Energie, die ich für meinen Heimweg brauchte, und fragte mich, was Alvarez wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass ich mitten in der Nacht auf einer Mauer hockte und mich mit Prostituierten unterhielt.
    Mir wurde schwindlig, und ich hätte um ein Haar gelächelt, als ich daran dachte, wie er mich geküsst hatte, als hätte er vergessen, wie man atmet.

20
    An Schlaf war nicht zu denken, denn im Zimmer nebenan probierten Lars und Lola irgendwelche neuen Sexualpraktiken aus. Inzwischen fielen sie nicht mehr ungebremst übereinander her, sondern waren in die experimentelle Phase eingetreten und visierten offenbar den längsten Orgasmus aller Zeiten an. Schließlich dämmerte ich ein, während Lola ein ums andere Mal den Namen ihres Liebsten rief, als hätte sie Angst, er stünde einfach auf und ließe sie allein, bevor sie oft genug gekommen war.
    Ein paar Stunden später schreckte ich aus einem Alptraum auf. Ich hatte mich, nur in einem T-Shirt, ausgesperrt, stand mit nackten Füßen auf dem eisigen Asphalt und starrte durch die Fenster von Wills leerem Bus. Die schwarze Plastikplane lag, aufgerollt wie eine riesige Zigarre, direkt neben dem Gefährt, und obwohl ich wusste, was sich in dem Ding verbarg, konnte ich dem Drang, noch einmal nachzusehen, einfach nicht widerstehen und schlug die Plane auf. Nur gehörte das Gesicht, das mir daraus entgegensah, nicht Suzanne Wilkes, sondern einem toten Will. An seinem Hals klaffte eine breite Wunde, und er blickte starr an mir vorbei den schwarzen Himmel an.
    Sobald ich wach war, schlug mein Herz wieder normal. Zumindest war mein Bruder noch am Leben, und vielleicht stoppte die Zeit im Krankenhaus seinen jahrelangen Selbstzerstörungstrip ja endlich.
    Als Lola in die Küche kam,

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