Im Totengarten (German Edition)
Termine und Rezepte sowie jeder Menge anderer Angelegenheiten, die unter Kontrolle waren.
Alvarez verschränkte seine Hände hinter seinem Nacken und starrte mich an. »Das ist ja alles gut und schön. Aber es sagt nichts darüber aus, warum zwei tote junge Frauen im Bus von deinem Bruder waren.«
»Es muss doch auch noch andere Wege geben, das herauszufinden«, antwortete ich.
Die Falte zwischen seinen Augenbrauen sah wie eine tiefe Schneise aus. Er bestand darauf, mit mir noch bis zur Tooley Street zu gehen, und als wir an die Ecke kamen, fiel sein Blick auf meinen Mund, als wolle er mich küssen, obwohl Angies Wagen direkt auf der anderen Straßenseite stand.
»Lieber nicht«, empfahl ich ihm, worauf er schlechtgelaunt gegen die noch auf dem Bürgersteig verstreuten Hagelkörner trat.
»Dir ist es immer lieber, wenn es nicht zu so was kommt, nicht wahr?«
»Ich denke nur an deinen Job, sonst nichts.«
»Vielleicht bin ich diesen verdammten Job ja einfach leid.«
»Nur weil du zu hart arbeitest.«
Beinahe hätte er gelächelt. »Irgendjemand muss das ja wohl tun.«
»Ich rufe dich heute Abend an«, versprach ich, und er ging so langsam davon, als zöge er ein unsichtbares Gewicht hinter sich her.
Nicht einmal die Eiseskälte konnte Angies Munterkeit was anhaben. Mit ihrem Elfenhaarschnitt und dem forschen Mundwerk kam sie mir wie einer der Oliver Twist’schen Gassenjungen vor.
»Der Boss scheint Sie zu mögen«, stellte sie gutgelaunt wie immer fest und sah mich aus den Augenwinkeln an.
»Was für ein Quatsch. Er macht nur seinen Job.«
»Wissen Sie, er ist der größte Frauenschwarm auf dem Revier.«
»Das ist ja wohl ein Witz.«
»Wobei die Konkurrenz auch eher bescheiden ist. Verglichen mit den meisten Typen dort, erscheint einem selbst DCI Burns wie das reinste Leichtgewicht. Aber Sie sollten mal erleben, wie die Mädels sich an Alvarez heranmachen, seit seine Frau gestorben ist.«
Ich fragte mich, ob Alvarez wohl wusste, dass es auf der Wache praktisch einen DS-Fanclub gab. Wir fuhren die Southwark Bridge Road hinab in Richtung Regency, und es würde nicht mehr lange dauern, bis sich abermals die Tür meines Gefängnisses hinter mir schloss.
»Fahren Sie bitte an der nächsten Kreuzung links, Angie.«
»Warum denn das?« Sie wirkte irritiert. Im Gegensatz zu Meads fand sie es entsetzlich, wenn nicht alles ganz genau nach Plan verlief.
»Es wird nur eine Minute dauern, versprochen«, sagte ich ihr zu.
Angie schnalzte mit der Zunge, als ich sie in eine Sackgasse einbiegen ließ.
Der Gedächtnisgarten war so unauffällig, dass man ihn beinahe übersah. Bei seiner Eröffnung hatte in den Zeitungen gestanden, er wäre den Angehörigen verhasst, und bei seinem Anblick konnte ich verstehen, warum. Sie waren der Ansicht, dass der Künstler den Leben der Opfer nicht gerecht geworden war. Und tatsächlich kam der Garten einem Tribut an den Minimalismus gleich. Auf der gepflasterten Fläche, auf der das Haus der Bensons vor seinem Abriss gestanden hatte, waren ein paar runde Blumenbeete und acht flache Steinplatten verteilt. Die Marmorplatten sahen wie riesige Münzen aus, deren weiße Oberfläche matt wirkte, wie Menschenhaut, die ewig nicht mehr an der Luft gewesen war. Während Angie vor der Liste mit den Opfernamen stand, fiel mir auf, dass einer der Gedenksteine bereits mit Schmierereien überzogen war. Nicht mehr lange, und wahrscheinlich war jeder Stein mit leuchtenden Graffiti verziert.
Ich hatte den dauerhaft getrübten Blick der verschwundenen Michelle vor Augen, als sähe sie keine Zukunft mehr für sich. Dabei war ihr mit ein bisschen Glück gar nichts passiert. Vielleicht war sie ja ganz einfach aus London weggezogen und fing irgendwo ein neues Leben an.
Ich drehte mich wieder zu Angie um, sah, dass sie mit gesenktem Kopf und leise murmelnd vor der Namensliste stand, und war ehrlich überrascht. Denn Gebete passten einfach nicht zu ihrem Image als pfiffige junge Frau. Und tatsächlich sah sie anschließend etwas verlegen aus, als hätte ich sie dabei überrascht, wie sie verbotenerweise an die Keksdose gegangen war.
»Los«, sagte sie brüsk. »Es hat keinen Sinn, noch länger hier herumzustehen.«
Als ich neben einem Stein einen Strauß Nelken liegen sah, dachte ich an die fünf Mädchen, die niemals gefunden worden waren. Ihre Verwandten hatten keinen Platz, an den sie Blumen legen konnten, wenn zum Beispiel der Geburtstag ihrer Tochter war. Doch zumindest war es besser als der
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