Im Totengarten (German Edition)
aus den Opfern in den Kühlkammern herauszukriegen als aus meinem Bruder Will.
Meine Mutter hatte sich noch nicht wieder bewegt. Sie stand stocksteif an eine Wand gepresst, und ihr Gesicht sah beinahe noch maskengleicher als gewöhnlich aus. Wahrscheinlich hatte sie vor ihrer Fahrt hierher noch eine Ewigkeit in ihrem Bad verbracht und sich das Lächeln aufgemalt. Vielleicht hätte ich sie trösten sollen, aber dazu hatte ich ganz einfach nicht die Energie.
Alvarez war nirgendwo zu sehen. Sicher hatte er eine der Schwestern holen wollen, als Will in laute Schreie ausgebrochen war.
Angie war in einer Ecke abgetaucht, und Will sprach mit sich selbst und hielt sich dabei die Augen zu, als spiele er mit irgendwem Versteck.
29
Obwohl Hari, wie von mir vorhergesagt, erst eine Stunde später als erwartet auf der Bildfläche erschien, sagte meine Mutter nichts. Diese Wirkung hatten nur Ärzte und Anwälte auf sie. Sie begegnete ihnen mit bedingungsloser Ehrerbietung, als wären sie kleine Könige.
»Wie geht es dir?« Hari sah mich prüfend aus seinen schokoladenbraunen Augen an. Ich hätte alles dafür gegeben, die Uhr zurückzudrehen, in seinem Büro zu sitzen und die klebrigen Plätzchen zu genießen, nach denen er süchtig war.
»Ich komme schon zurecht, Hari. Es ist mein Bruder, der mir Sorgen macht.«
»Deshalb bin ich hier. Ich will sehen, inwieweit ich ihm helfen kann.«
Alvarez lungerte neben der Tür. Irgendwie kam es mir seltsam vor, dass er und Hari Freunde waren, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass es irgendwelche Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gab. Aber es war eben typisch Hari, dass er jemanden, der Hilfe brauchte, nicht einfach im Regen stehen ließ, und ich stellte fest, dass sich seine Ruhe irgendwie auf Alvarez zu übertragen schien. Bei Will funktionierte es auf jeden Fall. Er wirkte wesentlich entspannter als noch einen Augenblick zuvor, starrte aber immer noch das offene Fenster an, als folge er mit seinem Blick der Spur, die eine Geisterschar am Himmel hinterlassen hatte.
»Guten Morgen, junger Mann«, murmelte Hari sanft. »Sie sind heute aber ruhig. Das ist ein gutes Zeichen.«
»Er hat sich eben noch die Lunge aus dem Hals geschrien«, bemerkte ich. »Glaubst du nicht, er bräuchte vielleicht Chlorpromazin?«
»Wir dürfen ihn nicht drängen, Alice.« Er beugte sich über das Bett, berührte vorsichtig Wills Stirn und plauderte mit ihm wie mit einem alten Freund. »Kommen Sie einfach in Ihrem eigenen Tempo wieder, junger Mann. In ein paar Tagen setzen wir Sie auf Valproat. Wollen wir doch mal sehen, was das bewirkt.«
»Um Gottes willen, Hari«, schnauzte Alvarez ihn an. »Weißt du nicht, wie dringlich diese Sache ist?«
Will reagierte umgehend auf seine laute Stimme oder vielleicht auch nur darauf, dass eine Familie von Riesen um sein Bett zu stehen schien. Wieder warf er sich die Hände vor die Augen und stieß ein lautes Wimmern aus.
»Warum gehen wir nicht erst mal raus?«, schlug Hari vor.
Kaum stand Alvarez draußen im Flur, stieß er mit zornbebender Stimme aus: »Er macht nicht die geringsten Fortschritte.«
»Weil er sehr krank ist, Ben«, klärte ihn Hari auf. »Er braucht einfach Zeit, um gesund zu werden.«
Alvarez starrte ihn böse an. »Das ist ja alles gut und schön, aber ohne seine Aussage sind wir verratzt. Er gehört zu dieser Gang, die wahrscheinlich schon die nächste junge Frau in ihren Fängen hat.«
Inzwischen hatte Hari den Blick aufgesetzt, den er immer bei Besprechungen der psychologischen Abteilung draufhatte, wenn er vor der Beschneidung irgendwelcher Mittel warnte. »Hör zu, Ben: Abgesehen davon, dass er krank ist, hat er auch noch einen ganzen Cocktail Psychopharmaka geschluckt, gegen die es kein Gegenmittel gibt. Wir müssen deshalb einfach abwarten.«
»Das heißt, dass du nichts machen kannst«, herrschte Alvarez ihn an.
»Nein. Das heißt, dass du dich weiterhin gedulden musst. Im Augenblick denkt Will, dass er ein gefangener Vogel ist. Und aus diesem Wahn taucht er bestimmt nicht einfach sofort wieder auf.«
Alvarez rang mühsam um Beherrschung. »Du musst einfach verstehen, wie dringend diese Sache ist, das ist alles.«
»Das verstehe ich durchaus, Ben, und es tut mir wirklich leid. Wir tun alles, was in unserer Macht steht.« Dann bedachte Hari mich mit einem entschuldigenden Blick und gab mir einen Wangenkuss. »Du fehlst uns allen, Alice.«
Damit begab er sich zurück in die Welt, die bisher auch meine Welt gewesen war, voller
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