Im Totengarten (German Edition)
ich mich mit meinem eigenen, unglaublich originellen zweiten Roman befassen kann.«
»Es überrascht mich, dass Sie nach der ganzen anderen Arbeit dazu noch die Energie aufbringen«, meinte ich.
»Dieser Job ist toll für meine Schreiberei«, klärte er mich achselzuckend auf. »Schließlich bekommen nicht gerade viele Leute täglich die Lebensgeschichten irgendwelcher Killer aufgetischt.« Er schien zu überlegen, ob er offen mit mir sprechen könnte oder nicht. »Hören Sie, Dr. Quentin …«
»Alice.«
»Hören Sie, Alice, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll …«
Sein Blick flatterte über das Durcheinander aus geleerten Bechern, Plastiklöffeln und verschüttetem Zucker auf dem Tisch.
»Lassen Sie sich Zeit.«
Er atmete tief durch. »Ich habe etwas genommen, was nicht mir gehört.«
Er klappte seine Aktentasche auf, zog ein Bündel Papier hervor und schob es mir über den Tisch. Der krakeligen Schrift zufolge hatte der Verfasser dieser Seiten es beim Schreiben sehr eilig gehabt.
»Wem gehören diese Blätter?«, fragte ich.
»Marie Benson.« Er wirkte nervös. Vielleicht ging er davon aus, man nähme ihn für seine Tat an Ort und Stelle fest. »Als ihr klarwurde, dass sie erblinden würde, fing sie mit dem Schreiben an. Ich glaube, sie wollte sich alles von der Seele schreiben, solange sie dazu noch in der Lage war.«
Ich blickte auf die Flut gekritzelter Zeichnungen am Rand von jedem Blatt.
»Und sie weiß nicht, dass Sie diese Blätter haben?«
Wright-Phillips schüttelte den Kopf. »Ich habe sie vor ein paar Wochen mitgenommen, als ich zu Besuch in ihrer Zelle war.«
»Als Material für Ihren eigenen Roman.«
Er starrte den Kaffeerest in seinem Becher an.
»Das kann ich Ihnen nicht verdenken. Schließlich wollen wir alle wissen, was sie uns die ganze Zeit verschwiegen hat.«
»Tatsächlich war es ein bisschen enttäuschend. Ein paar kitschige Gedichte sowie Unmengen von Selbstmitleid.«
»Würden Sie mir diese Blätter trotzdem leihen?«
»Natürlich, Alice, aber da ist noch etwas.«
»Entschuldigung, ich lasse Sie noch nicht mal ausreden.« Ich rutschte auf meinem Stuhl nach vorn. »Das ist ziemlich unhöflich von mir.«
»Sie werden es ihr nicht erzählen, oder?«, fragte er in sorgenvollem Ton, und plötzlich fiel mir auf, dass seine Augen nicht türkis, sondern aquamarinblau und glasig waren. Auch wenn Marie Benson praktisch blind war und inzwischen sicher hinter Schloss und Riegel saß, fürchtete er offenbar, dass sie sich an ihm rächen würde, falls sie je erführe, dass er sie hintergangen hatte.
30
Als wir wieder ins Hotel kamen, saß PC Meads gemütlich auf der Couch und verfolgte voller Spannung eine Sendung, in der es um Antiquitäten ging. Es schien also deutlich mehr in ihm zu stecken, als ich bisher vermutet hatte. Vielleicht war er ja ein Porzellanexperte und verdiente sich als Polizist nur etwas Geld dazu. Doch die Peinlichkeit, bei etwas derart Uncoolem erwischt worden zu sein, war eindeutig zu viel für ihn, denn er wurde so rot, als wäre ich dazugekommen, während er vor einem Hardcore-Porno saß.
Irgendwer hatte mein Schlafzimmer geputzt und meine Kleider ordentlich gefaltet, während ich nicht da gewesen war. Diesen Service in Hotels hatte ich jedoch immer schon gehasst, denn dabei wühlte eine Armee unterbezahlter Frauen in meinen Habseligkeiten herum und führte lauter Tätigkeiten aus, für die ich im Grunde selbst zuständig war.
Seufzend legte ich mich auf mein Bett und blätterte Marie Bensons Notizen durch. Auf den ersten Blick sahen sie einfach wie ein wildes Durcheinander aus diversen Listen sowie wüsten Kritzeleien aus, wobei die Panik der Verfasserin beinahe mit Händen greifbar war. Sie hatte offenbar versucht, ihre Vergangenheit zu katalogisieren, bevor sie vollends in der Dunkelheit versank. Auf einer Seite hatte sie ein Weihnachtsfest aus ihrer Kindheit festgehalten und nicht nur die einzelnen Geschenke, sondern auch die Namen sämtlicher Verwandten, die in jenen Tagen zu Besuch gekommen waren, auf dem Blatt notiert. Unter den Text hatte sie einen Weihnachtsbaum gemalt, an dessen schiefen Zweigen Kugeln hingen. Wright-Phillips hatte recht gehabt, die Frau verging beinahe vor Selbstmitleid. Ich entdeckte die Entwürfe Dutzender von Schreiben an verschiedene Politiker, in denen sie ihre Freilassung erbat. Der ganze Fall war eine fürchterliche Farce, erklärte sie. Und durch jeden Tag, den sie in Haft verbringen musste, wurde dieser
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