Im Visier des Todes
Kissen. Was die Ohnmacht gnädigerweise ausgeblendet hatte, war wieder da.
Er sah auf seine Manteltasche. »Entschuldigung. Die gehören natürlich Ihnen. Ich dachte, sie sollten nicht auf dem Gehweg liegen bleiben. Es war nicht meine Absicht, sie zu behalten.«
Er griff nach den Aufnahmen.
»Nein!« Die Wände um sie herum begannen zu fließen.
Er hielt die Bilder in der Hand, erstarrte. Etwas Dunkles überschattete seine Augen. Abscheu, kalter Groll, dann Entsetzen … Zu schnell wandte er seinen Blick ab, als dass sie sich hätte sicher sein können, darin das Aufflackern von Schmerz gesehen zu haben.
» Die Enthüllung «, flüsterte er kaum hörbar. Unendlich langsam legte er das obere Foto nieder. Es zeigte Célines kahl rasierten Schädel und ein schmales Blutrinnsal, das sich auf der Stirn zu einem dicken Tropfen sammelte.
Immer schneller bewegte er seine Lippen. Sie konnte nur raten, welche Worte er formte. Der Schrei . Célines aufgerissener Mund mit einem Zungenstummel. Die Verblendung . Célines Augen mit abgeschnittenen Lidern. Die Grabesstille . Die Verderbnis . Schmetterlinge im Bauch . Der Herzschmerz .
Die Fotos glitten aus seiner Hand zu Boden. » Hate me .«
»Was … was wissen Sie darüber?« Das Haus war voller Menschen, die binnen Sekunden dieses Zimmer stürmen würden, sollte sie schreien. Und trotzdem war die Angst da. Nichts hatte sie im Griff, anders, als sie es sich die ganze Zeit eingeredet hatte. Nicht einmal ihren eigenen Körper, der unkontrolliert zitterte.
Seine Kiefermuskeln spannten sich an. Seine rechte Hand tauchte aus der Manteltasche auf, er hielt etwas umklammert, so fest, dass die Knöchel und Sehnen hervortraten. Einen Moment glaubte sie, er wollte ihr etwas geben. »Was ist das?«
Als er den Kopf hob, zeigte sein Gesicht eine unerschütterliche Kraft und eine Mauer, an der die ganze Welt abzuprallen schien. Die Augen dunkel, das Meer darin – gewittrig.
Sie hielt seinem Blick stand. »Was?«, wiederholte sie mit Nachdruck. »Was ist darauf?«
Die Hand verschwand in der Tasche. »Aufnahmen von sterbenden Galaxien.« Seine Stimme klang abweisend. Er deutete auf die verstreuten Bilder. »Bringen Sie die Fotos zur Polizei!«
Schon war er an der Tür. Groß, breitschultrig, fremd.
»Warten Sie!« Sie stand auf, klammerte sich mit feuchten Händen an das kalte Bettgestell. »Sie wissen doch etwas über die Bilder, oder?«
»Ich kann Ihnen nicht helfen.« Er griff sich an den Hemdkragen. Der oberste Knopf stand offen. Er löste den nächsten. »Ich … kann nicht.«
Die Tür fiel nicht ins Schloss, so starrte Leah in den dunklen, leeren Flur. Ihre bestrumpften Füße suchten sich einen Weg zwischen den Fotos.
Sie hob den Umschlag auf. Célines Name auf dem Kuvert, dazu die Adresse dieses Hauses, das ihre kleine Schwester schon vor langer Zeit verlassen hatte. Und der Absender: » Dream Impressions. «
Das Wort schmeckte vertraut auf ihrer Zunge.
» Impressions. «
Ein wenig nach Früchtetee.
Es wird mein Durchbruch sein, Leah, mein Durchbruch. Paris, New York – ich komme!
Und ein Wiedersehen später: Ich bin da in etwas Großes reingeraten. Es macht mir Angst. Dazu Célines gehetzter Blick nach allen Seiten, als würde sie verfolgt.
Leah raffte die Fotos zusammen und stopfte sie in den Umschlag. Der Brief war nicht an Célines Wohnung gegangen, weil er nicht für ihre kleine Schwester bestimmt war. Sondern für sie. Es war eine Warnung. Weil der Mörder wusste, wie nah sie ihrer Schwester stand? Weil er sie beide beobachtet hatte? Weil … er glaubte, dass sie etwas erfahren haben müsste?
»Ich bin stark.«
Vor ihr lag der dunkle, leere Flur.
Sie würde herausfinden, wer der Mörder war. Um das Leben wieder in den Griff zu bekommen. Um nicht mit dem Gefühl weiterzuleben, all die Andeutungen nicht beachtet zu haben. Um dem Mörder in die Augen zu schauen und darin zu lesen, dass nicht sie am Tod ihrer Schwester schuld war, sondern er.
»Ja. Ich bin stark. Ich schaffe es schon.«
4
Celine Winter. Ein Vor- und Nachname neben dem Klingelknopf. Zwölf schwarze Buchstaben auf einem weißen Streifen Papier in diesem Treppenhaus, das längst eine Sanierung herbeiklagte. Das Licht erlosch. Leah betätigte den Schalter. Erneut begann die Lampe über ihrem Kopf zu flackern, als wäre diese sich unsicher, ob sie gleich den Geist aufgeben oder den elektrischen Schluckauf noch ein Weilchen beibehalten sollte.
Celine Winter. Kein Akzent auf dem E. »Warum
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