Im Visier des Todes
Sessel lag, und musste sich an dessen Lehne festhalten. »Entschuldigung. Leah. Leah Winter. Ich bin Célines Schwester.«
Die junge Frau stemmte eine Hand in die Hüfte, als würde sie sich am Ende eines Laufstegs in Pose werfen. »Nathalie. Tut mir leid, du – ich kann doch du sagen, richtig? –, du hast mich überrascht.«
»Das erklärt nicht, was du in der Wohnung meiner Schwester machst.«
»Hier wohnen natürlich. Du hast echt keine Vorstellung, wie hoch die Mieten sind. Céline war meine Freundin. Wir haben praktisch alles geteilt.«
»Sie hat nie von dir gesprochen.«
»Na, dich hat sie auch nicht gerade oft erwähnt.« Im Gegensatz zu der grazilen Figur klang ihre Stimme kratzig wie ein Filzstift, der auf Pappe schrieb. »Du willst bestimmt Célines Sachen abholen. Das trifft sich gut, ich habe nämlich schon alles gepackt.«
Leah vergrub das Kinn in der Wolle der Strickjacke, atmete den Zigarettengeruch ein. »Sehr tüchtig von dir.«
Nathalie kniff die Augen zusammen, trat zu ihr und zog ihr das Jäckchen aus den Armen. »Das ist meine.« Das Kleidungsstück flog auf die Couch. »Los, ich zeige dir, wo die Kartons stehen.«
»Ich würde mich hier gern ein bisschen umschauen. Du hast doch nichts dagegen? Wenn ich mich nicht irre, war es Céline, die die Miete bezahlt hat.« Schließlich hatte sie ihrer Schwester monatlich Geld überwiesen, um sie vor finanziellen Sorgen zu bewahren.
Das Feenwunder schnaubte. »Himmel, dann eben das.«
Viel gab es allerdings nicht zu sehen. Nach dem ellenlangen Flur und dem riesigen Wohnzimmer verlor die Wohnung sehr schnell ihren Beletage-Flair. Es existierten noch drei weitere, sehr viel kleinere Zimmer, ein enges Bad und eine Küchennische ohne Fenster. Langsam dämmerte es Leah, warum Céline sie nie hierher gebeten hatte. Die Aufnahmen von Next Top-Model hatten ihnen beiden ganz andere Wohnverhältnisse vorgegaukelt. Du hättest dich nicht zu schämen brauchen, kleine Schwester. Vor mir doch nicht.
Die frostige Höflichkeit in Nathalies Blick näherte sich langsam dem Gefrierpunkt. Leah versuchte ein versöhnliches Lächeln. »Als beste Freundin weißt du bestimmt, ob Céline mit irgendjemandem Schwierigkeiten hatte. Das Modegeschäft ist kein einfaches Pflaster. Nehme ich an. Kannst du dir vorstellen, dass sie Feinde hatte?«
»Na hör mal! Sie wäre über Leichen gegangen, um sich einen Auftrag unter die Nägel zu reißen. Damit macht man sich nicht unbedingt Freunde, was?«
»Céline?« Sie schnappte nach Luft. »Nein. So war sie nicht.«
»Oh, wow, nur ruhig Blut.« Nathalies Mundwinkel zuckten. »Ich kann doch nicht wissen, welche Antworten dir gefallen. Frag halt nicht.«
»Okay, warte. Warte. Tut mir leid. Ist in der letzten Zeit irgendetwas vorgefallen? Hat sie mit jemandem Streit gehabt?«
»Du meinst, außer mit Gott und der Welt? Wenn du es genau wissen willst: Ein- oder zweimal hat sie ihren Freund erwähnt. Wie hieß er noch mal … ?«
»Poul. Er heißt Poul. Was ist mit ihm?«
»Hmm. Poul. Nein, so bestimmt nicht. Egal. Ist auch nicht so wichtig. Jedenfalls ging es bei denen drunter und drüber. – Sag mal, was gedenkst du eigentlich mit den ganzen Möbeln anzufangen?« Mit der Fußspitze stieß Nathalie an die Tür zu Célines Schlafzimmer. »Es sind sehr schöne Sachen. Céline hatte ein Händchen dafür, billiges Zeug zu finden, das nach mehr aussah.«
»Ich habe mir noch keine Gedanken darüber gemacht. Und ihr Freund hieß wirklich Poul. Sie ist … war … seit der Schulzeit mit ihm zusammen.«
»Poul hin, Poul her. Große Güte, bist du eine Nervensäge! Nenn ihn, wie du willst. Jedenfalls ist er Fotograf und hat ihr zu einem Shooting verholfen. Sie hat unglaublich geheimnisvoll getan, nur erwähnt, sie würde bald zusammen mit solchen Größen wie Chloe Memisevic arbeiten.«
»Dem Mager-Model?«
»Oha!« Nathalies Blick wanderte Leahs Körper herab. Der Crash-Stoff des Pullovers schien die junge Frau wenig zu beeindrucken. »Die kennst sogar du.«
»Was war das für ein Shooting?«
»Zuerst nur ein paar Probeaufnahmen. Einmal kam sie etwas angetrunken nach Hause, meinte, es würde endlich losgehen, sie wäre dabei. Müsste sich aber den Schädel kahl rasieren. › Enthüllung ‹ , so hat sie es genannt. Und dann hat sie mich gefragt, ob ich schon einmal aus den Augen geblutet habe, und hat gekichert. Echt krank, wenn du mich fragst.«
Mit einer Hand suchte Leah Halt. Der Türrahmen gab ihr welchen. Wenn sie schon
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