Im Visier des Verlangens
dass ein Teil von mir für immer in diesem Boot zurückgeblieben ist. Das Leben zu führen, wie ich es mir vorstelle, bedeutet für mich, alles zu erreichen und nie wieder eine Bürde für andere zu sein.“
„Ich will dich nicht umsorgen, weil ich Mitleid für dich empfinde. Wenn du mir sagst, welche furchtbaren Dinge du erlitten hast, und ich mit dir leide, ist das kein leeres Geschwätz. Und du zeigst keine Schwäche, wenn du mir erlaubst, dich gesund zu pflegen.“
„Nein“, sagte er schroff. „Du hast völlig recht. Es ist nichts dergleichen, es ist vielmehr etwas, das ich mir nicht gestatte.“
Und mit diesen Worten wandte er sich von ihr ab. Seine Ablehnung schmerzte sie tief. Über seine Stärken konnte Ned sprechen. Aber bei all seinen Beteuerungen, ihr Vertrauen gewinnen zu wollen, hatte er nie den Wunsch geäußert, sie möge ihm vertrauen.
Sie war zu häufig gegen die Mauer seines zwanghaften Bedürfnisses, Stärke zu zeigen, angerannt, um nicht zu erkennen, dass ihre Bemühungen vergeblich waren. Immerhin war es ihr gelungen, den Grund dafür zu entdecken. Die kalte nackte Wahrheit, die ihn zu dem gemacht hatte, der er war. Sie wusste, dass er sich nicht ändern würde.
Es wäre zu einfach gewesen, diese Erkenntnis schmerzhaft zu nennen, vergleichbar etwa mit körperlichen Schmerzen, die mit der Zeit vergingen und schließlich vergessen wären. Was sie empfand, war kein stechender Schmerz, vielmehr etwas, das sich tief in ihre Seele bohrte, ihr Innerstes durchdrang. Sie sehnte sich danach, sich an ihn zu schmiegen, seinen Kopf an ihren Busen zu betten, ihm beruhigend die Stirn zu streichen. Mit jeder Faser sehnte sie sich danach, ihm Trost zu geben, ihm zu versichern, wie stark er war und dass er nicht alles im Leben allein schaffen musste. Es war keine Verletzung, die sie schmerzte, es war viel schlimmer. Die unendlich tiefe Enttäuschung, dass all ihre Hoffnungen vergeblich waren.
Kate stand auf und beugte sich über ihn. Ihr Schatten in der Nachmittagssonne fiel dunkel über sein Gesicht.
Sie wollte ihn anschreien, wollte ihn an den Schultern packen und rütteln, bis er zur Einsicht käme. Wäre er nicht hilflos mit dem gebrochenen Bein im Bett gelegen, hätte sie es auch getan.
Obwohl es sinnlos gewesen wäre.
„Ich will dir nicht wehtun“, sagte er leise.
Nein. Das hatte er nie gewollt. „Natürlich nicht“, erwiderte sie einigermaßen gefasst. „Du musst lediglich … zuerst dich schützen. Ich verstehe, Ned.“
Sie wünschte allerdings, nicht zu verstehen, und blinzelte heftig gegen das Brennen in ihren Augen an. Sie wünschte, ihm wütend damit drohen zu können, wegzulaufen, ihn im Stich zu lassen. Aber darum ging es in einer Ehe: bei ihm zu bleiben, ihm zur Seite zu stehen, auch wenn er nicht fähig war, Rücksicht auf ihre Gefühle zu nehmen. Sie würde lernen, ihn nicht mehr zu bitten, Anteil an seinem Leben haben zu dürfen. Sie würde lernen, vorzugeben, dass seine Weigerung, ihr zu vertrauen, ihr nichts anhaben konnte. Eine weitere Maske, hinter der sie sich verstecken musste, nur tausendmal bedrückender als die, die sie abgelegt hatte. Denn mit dieser Maskerade musste sie vortäuschen, dass seine Gefühlskälte ihr gleichgültigwar. Aber sie würde darunter leiden bis an ihr Lebensende.
Er nahm ihre Hand, und selbst aus dieser Geste schöpfte sie die Kraft, die er von ihr nicht annehmen wollte.
Müde schloss sie die Augen und ließ dieses Gefühl grenzenloser Leere und Verlorenheit zu. Seine Finger strichen über ihren Handrücken, kraftvoll und zuversichtlich. Dieses sanfte Streicheln brannte sich tief in ihr ein.
Bevor der Schmerz sie zu übermannen drohte, entzog sie ihm ihre Hand und ging.
23. KAPITEL
D icke Schneeflocken fielen taumelnd vom bleigrauen Himmel und schmolzen, sobald sie das nasse Kopfsteinpflaster in der Bond Street berührten. Kate erinnerte sich deutlich an das kleine Geschäft, das sie in den hektischen Tagen nach der Hochzeit aufgesucht hatte. Das Nachthemd, das sie hier gekauft hatte, ein hauchdünnes Seidengespinst, an das sie all ihre Hoffnungen gehängt hatte, lag wieder in der Kommode in ihrem Schlafzimmer. Sie hatte es nur einmal getragen, vor wenigen Tagen, die ihr eine Ewigkeit her schienen. Ihre Wünsche hatten sich nicht erfüllt. Ihr blieb nur das Andenken an unerfüllte Träume: durchsichtig, unwirklich und nichtig.
Das Schaufenster war mit kostbaren Seiden- und Damaststoffen in schillernden Farben dekoriert, dahinter die
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