Im Visier des Verlangens
auf den Mund zu küssen, hätte den Kopf von ihrer Schulter heben müssen. Aber dann würde sie vermutlich sehen, dass etwas verräterisch Wässriges in seinen Augen glänzte. Zweifellos bemerkte sie bereits seine Atemlosigkeit.
Doch vielleicht wusste sie längst. Vielleicht hielt sie ihn so innig umarmt und streichelte seine Schulter, weil er nicht länger einsam sein musste, nicht einmal nach seinem letzten Geständnis. Als sein innerer Aufruhr sich langsam beruhigte, er ein letztes Mal stoßweise an ihrem Hals ausatmete, begriff er endlich, dass sie recht hatte. Mit Kate an seiner Seite wurde er stärker, nicht schwächer. Still lagen sie da und liebkosten und streichelten einander behutsam.
„Weißt du, was es bedeutet, mir zu helfen?“, fragte er nach langem Schweigen schläfrig an ihrer Wange. Die Lider waren ihm schwer geworden.
„Natürlich weiß ich das.“ Sie klang belustigt. Und dann beugte sie sich über ihn. Er spürte, wie die Matratze unter ihrem Gewicht nachgab, spürte ihre Wärme an seinem Gesicht. Schließlich küsste sie seine Lider. „Es bedeutet, dass ich dich liebe.“
„Oh.“
So war das also mit der Liebe. Keine erdrückende Zuwendung einer überfürsorglichen Frau, die ihm das Fleisch in kleine Bissen schnitt. Es war weit größer, umfassender. Er sollte etwas darauf erwidern, aber ihre streichelnden Finger verschafften ihm ein unendlich zufriedenes Wohlbehagen, wie er es nie zuvor in seinem Leben verspürt hatte. Endlich fühlte er sich sicher und geborgen. Nicht länger einsam.
Und in diesem Wohlbehagen driftete er in den Schlaf.
Als er am nächsten Morgen erwachte, war sie immer noch bei ihm, eine vertraute warme Gegenwart. Über Nacht hatten all seine Nöte und Bedrängnisse ihren Schrecken verloren. Er wusste, dass er die ausweglos scheinende Situation in den Griff bekommen konnte. Er wusste, dass er Harcroft besiegen konnte und was zu tun war.
Lange beobachtete er Kate, wollte ihren Schlaf nicht stören. Als ihre Lider schließlich flatterten und ihr Blick dem seinen begegnete, breitete sich ein seliges Lächeln in ihrem Antlitz aus. Sie sagte kein Wort, und das war auch nicht nötig.
Manche Dinge waren schwieriger zu bewältigen als ein Fußmarsch von fünf Meilen mit einem gebrochenen Bein. Aber Ned hatte große Erfahrung darin, Dinge zu tun, die ihm schwerfielen. Er blickte seiner Gemahlin tief in die Augen.
„Kate“, sagte er leise, holte tief Luft und nahm ihre Hand. „Ich brauche deine Hilfe.“
In Londons gehobenen Gesellschaftskreisen entstanden Gerüchte häufig aus nichts anderem als einem vielsagenden Blickwechsel, und nicht selten genügte ein zerknittertes Kleid, um bösen Klatsch über die Trägerin zu verbreiten. Es war also keine Überraschung, dass alle Welt ein sensationslüsternes Interesse an dem Zwist zwischen Harcroft und Ned Carharts Gemahlin an den Tag legte. Zudem war allgemein bekannt, dass Louisa bei den Carharts wohnte, und die Spekulationen über ihre Beweggründe überschlugen sich.
Die meisten bezogen sich auf Louisas Aussagen im Gerichtssaal: Sie zürnte ihrem Ehemann, weil er ihre beste Freundin unter fadenscheinigen und letztlich haltlosen Anschuldigungen vor Gericht gezerrt hatte. Es gab allerdings auch noch andere Theorien.
Kate sortierte die Klatschblätter zu kleinen Stapeln auf dem Frühstückstisch. „Gekränkter weiblicher Stolz“, murmelte sie. „Verletzter Stolz einer Dame der Gesellschaft. Männliche Selbstherrlichkeit. Gekränkter weiblicher Stolz.“ Sie hob denBlick. „Das ergibt drei für weiblichen Stolz.“
„Und kein Wort über zwei Anträge beim Court of Chancery wegen Geistesstörung?“, fragte Ned trocken.
Kate schüttelte den Kopf. „Solche Gesuche werden vertraulich behandelt, wie du weißt. Die Anträge wurden ja nicht öffentlich bekannt gegeben. Wie sollten die Klatschmäuler also davon erfahren?“
Ned lächelte in grimmiger Genugtuung. Alle Welt wusste, dass es nur drei Möglichkeiten gab, eine Ehe aufzulösen. Im Falle einer Scheidung würden Harcroft alle Rechte an seinem Sohn zugesprochen werden. Also kam diese Lösung nicht infrage. Ein Antrag auf Annullierung würde den Nichtvollzug der Ehe erfordern, wogegen die Existenz des gemeinsamen Sohnes sprach. Die dritte Möglichkeit wäre das Ableben eines Ehepartners, doch kein Mensch wollte die Konsequenzen auf sich nehmen, Harcroft ins Jenseits zu befördern.
Das beim Court of Chancery anhängige Verfahren seitens Harcroft, mit dem er Louisa
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