Im Visier des Verlangens
sich blitzschnell und entriss ihm ihre Hand. Sein Faustschlag traf die Wand hinter ihr.
„Vorsicht! Sie könnten sich verletzen“, warnte sie in fürsorglichem Ton, doch das schadenfrohe Blitzen ihrer Augen sagte etwas anderes. „Harcroft, nehmen Sie Vernunft an …“
Wutentbrannt fuhr er herum. „Verfluchtes Weib!“, knurrte er zähneknirschend. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, packte er sie an den Schultern und stieß zu. Kate verlor die Balance und landete auf dem Parkett, ihr Kopf verfehlte die Wand nur um Haaresbreite. Der Earl ging in die Hocke, beugte sich über sie und drückte ihre Schultern zu Boden.
Kate lächelte erleichtert zu ihm hoch. Gottlob! Sie hatte ihn dazu verleitet, sein wahres Gesicht zu zeigen. Sie hatte gesiegt. Alle hatten sie ihn besiegt.
Erst jetzt dämpfte sie ihre Stimme zu einem Flüstern, denn das, was sie ihm nun sagen wollte, brauchte kein anderer zu hören. „In den Geschichten“, flüsterte Kate, „tötet die Heldin den Drachen.“
Er glotzte sie verdattert an.
„Sie schlägt dem Monster den Kopf ab und bringt ihn den Dorfbewohnern. Und sie zünden ein Freudenfeuer an und feiern, weil die Finsternis aus ihrem Land verbannt wurde.“
„Drachen“, kreischte Harcroft. „Drachen? Was, zum Teufel, haben Drachen mit dieser Sache zu tun?“ Drohend hob er den Arm. Kate lag wehrlos am Boden, in der nächsten Sekunde würde er ihr die Faust ins Gesicht schmettern. Sie hätte Todesangst haben und ihr Herz hätte wild hämmern müssen, stattdessen durchströmte sie ein unbändiges Glücksgefühl. Jauchzender Triumph. Er konnte ihr nichts anhaben. Sie lächelte zu ihm hoch. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Wahre Helden“, erklärte sie ihm, „zähmen ihre Drachen.“
„Harcroft!“ Eine schneidende Stimme ertönte hinter ihm.„Hör auf damit!“
Der Earl fuhr herum, immer noch mit erhobener Faust, die andere Hand an Kates Schulter.
Es war Ned, der im Flur des Dienstbotentrakts gewartet hatte. Er kam näher, auf Krücken gestützt, die unheilvoll laut auf dem Parkett klapperten.
„Wie oft muss ich es dir noch sagen?“, fragte er gelassen. „Nimm die Hände von meiner Frau! Sofort!“
Harcroft ließ nicht von ihr ab.
„Ich warne dich, Harcroft. Tu nichts, was du hinterher bereust.“
„Bereuen?“ Harcroft stieß den Atem aus. „Bereuen? Ausgerechnet du sagst mir das? Was soll ich denn bereuen?“ Seine Finger gruben sich schmerzhaft in Kates Schulter. „Ich … wenn ich meine Frau wieder hätte, wäre das alles nicht passiert.“
„Ach? Du hast Louisa also nie geschlagen, wie?“
„Nur aus Versehen“, krächzte er heiser. „Es war nie meine Absicht. Es war nicht meine Schuld. Wirklich nicht.“
„Es war nicht deine Schuld?“
„Du kennst das doch. Sie macht mich so wütend, und ich weiß nicht mehr, was ich tue. Sie zwingt mich dazu, verdammt noch mal. Alle zwingen mich dazu. Dagegen kann ich nichts tun.“
Ned lächelte kalt. „Du kannst vielleicht nichts dagegen tun, Harcroft. Aber ich.“
„Blödsinn. Du kannst ja nicht mal richtig gehen.“
Ned trat einen weiteren humpelnden Schritt näher und baute sich trotz seiner Verletzung drohend vor Harcroft auf. Und dann ging er neben Kate in die Knie. „Das ist auch nicht nötig.“ Er klang immer noch völlig ruhig. Seine Hand fand Kates kalte Hand, und er verschränkte seine starken Finger mit den ihren.
„Wie? Was soll das heißen?“
Ned warf einen Blick über die Schulter. „Haben Sie genuggesehen, Lord Chancellor ?“
Harcrofts Kopf fuhr herum. „Lord Chancellor? Lord Chancellor? Lyndhorst ist hier?“
Hinter dem Wandschirm traten zwei Herren hervor. Ein untersetzter Mann mit Brille und sorgenvoll umwölkter Stirn, dunkelbraun gekleidet, in dem Kate den Arzt vermutete. Dahinter ein stattlicher Herr, feierlich gewandet mit ordengeschmückter Brust. Im dämmrigen Saal hatten die goldenen Streifen am Ärmel seines Uniformrocks ihren Glanz eingebüßt.
„Lord Chancellor.“ Harcroft blickte fassungslos zu ihm hoch, bevor er mühsam auf die Beine kam. „Ich … das heißt, wieso sind Sie hier? Ich dachte …“
„Ich will mich davon überzeugen, ob eine ärztliche Untersuchung zur Diagnose einer Geisteskrankheit nötig ist.“
Harcrofts Blicke irrten wild durch den Saal. „Aber … aber meine Gemahlin ist nicht anwesend. Wieso also …?“
„Weil mir zwei Klagen vorliegen. Eine von Ihnen gegen Ihre Gemahlin. Und eine zweite seitens Lady Harcroft gegen Sie. Aufgrund
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