Im Visier des Verlangens
der Hand, fest und unerschütterlich, obwohl er sich auf die Krücken stützen musste.
Sie hatten das hektische Getriebe der Großstadt längst hinter sich gelassen. Kate stieg der Geruch nach verbranntem Laub in die Nase, Kühe muhten in der Ferne, die Luft war frisch.
„Hast du mich auf einen Bauernhof gebracht?“, vermutete sie.
„Gut geraten.“ Seine Hand legte sich an ihren Rücken. „Aber falsch.“ Er drehte sie um. Sie spürte die Wärme seines Körpers an ihrem Rücken. „Jetzt kannst du die Augenbinde abnehmen.“
Kate gehorchte und befreite sich von dem Tuch.
Sie stand vor einem Haus, einem großen Landhaus, das trotz der schlichten grauen Farbe einladend wirkte. Das Gras zu ihren Füßen war noch feucht vom Morgentau. Wabernde Nebelschwaden ließen die Umgebung nur undeutlich erkennen. In der Ferne glaubte sie verschwommen, Bäume zu erkennen. Die Fenster waren dunkle Höhlen, kein Licht, keine Vorhänge waren zu sehen.
„Das Haus steht leer“, sagte sie einigermaßen verwirrt.
„Richtig“, bestätigte Ned. „Aber nicht ganz. Es ist ein leeres Haus, das dir gehört.“ Sein Arm umfing ihre Mitte.
Kate wartete auf eine Erklärung, aber Ned blickte nur versonnen lächelnd in die Ferne. „Nun gut, Ned. Was, bitteschön, soll ich mit einem leer stehenden Haus anfangen?“
„Mir sind unverhofft fünftausend Pfund zugeflossen, und ich versprach den edlen Spendern in London, dir etwas Schönes davon zu kaufen. Es ist auch ein Stück Land dabei, nicht viel, aber groß genug für einen Garten.“
Da er wieder schwieg, nahm sie das Anwesen in näheren Augenschein. Nicht weit entfernt entdeckte sie eine leere Koppelund einen Stall. „Sag bitte nicht, die ist für Champion gedacht.“
Hinter dem Stall lag ein Weiher, kaum sichtbar im wabernden Nebel.
„Nein.“ Ned feixte. „Kannst du es dir immer noch nicht denken? Vielleicht solltest du dich genauer umsehen.“
Während sie an der Koppel entlangschlenderte, kam ihr noch immer keine Idee. Ned folgte ihr, mühsam auf die Krücken gestützt. Sie erreichten das steinige Ufer des Weihers.
„Ich muss gestehen, ich habe immer noch keine Ahnung, was du damit bezweckst.“
Ned nahm den Gurt der Ledertasche, die er bei sich trug, von den Schultern und nestelte am Verschluss. „Hier, nimm das heraus.“
Kate äugte in die Tasche. Auf ein paar in Wachspapier eingewickelten belegten Brötchen lag eine Pistole: die Waffe, die sie aus Neds Schublade genommen und Louisa gegeben hatte. Kate warf ihm einen fragenden Blick zu, er aber nickte nur aufmunternd.
Sie nahm die Pistole aus dem Beutel und hielt sie unschlüssig in der Hand.
„In den letzten Jahren“, erklärte er, „hast du sehr viel Gutes getan. Du hast vielen Menschen geholfen, so still und heimlich, dass niemand davon erfahren hat. Und niemand hatte auch nur die leiseste Ahnung, was in deinem Kopf vorging, und wer du wirklich bist. Du hast dein wahres Selbst vor der ganzen Welt verborgen.“
„Ich … aber wenn die Leute wüssten …“
„Nicht alle müssen es wissen“, fuhr er fort. „Allerdings ein paar mehr, außer mir, zum Beispiel Gareth und Jenny. Ein paar Freunde. Deine Eltern.“
Scharf zog Kate den Atem ein. „Nicht mein Vater … er würde …“
Es gab tausend Gründe, warum sie so hartnäckig geschwiegen hatte, die nun alle auf sie einstürmten. Ihr Vater würde siedafür tadeln und ihr jeden weiteren Rettungsversuch streng untersagen.
Aber nein. Dazu hatte er kein Recht. Wenn Ned seine Zustimmung gab, war ihr Vater machtlos, er konnte ihr nichts verbieten. Aber es gab schlimmere Konsequenzen. Wenn er feststellen musste, dass sie nicht die schutzbedürftige anschmiegsame Tochter war, für die er sie ihr ganzes Leben gehalten hatte, würde er ihr seine Zuneigung entziehen.
„Was immer du auch befürchtest“, sagte Ned sanft, „nimm deine Ängste und wirf sie fort.“
Kate holte stockend Atem.
„Ich meine es wörtlich“, ermunterte er sie. „Weil du auch meine Ängste festhältst. Diese Pistole und ich, wir haben sehr viel durchgemacht. Schleudere sie von dir, so weit du kannst.“
Die Waffe fühlte sich schwer in ihrer Hand an. Kate blickte wieder zu Ned, und dann hob sie das Ding mit beiden Händen hoch. Die Pistole war zu schwer, um sie wirklich weit weg zu werfen, andererseits aber zu leicht, um all ihre Ängste zu erfassen. Dennoch versuchte sie es und schleuderte sie von sich.
In weitem Bogen flog sie über das Wasser. Und einen kurzen Augenblick
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