Im Visier des Verlangens
Vorstellung, sich ebenso zu verhalten, war ihr unerträglich. Ihren zwölf Monate alten Säugling für ein paar Wochen fremder Fürsorge zu überlassen, käme für sie nicht infrage.
„Ich könnte alleine reisen“, erbot sich Gareth und rieb sich das Kinn. „Allerdings weiß ich nicht, ob es mir gelingt, dass die Menschen sich mir öffnen und frei reden.“
Wenn es um Beistand und Verpflichtung ging, so war Ned jetzt gefragt. Er war mit Jenny seit vielen Jahren befreundet. Und Gareth hatte ihm aus so mancher Patsche geholfen, in die er sich in seiner Jugend gebracht hatte. Wenn ihm wirklich etwas an den beiden lag, durfte er nicht zulassen, sie auf eine falsche Spur zu setzen, die nur in die Irre führte.
„Wollen wir uns tatsächlich über so eine Kleinigkeit wie die Reise nach Chelsea Gedanken machen, die höchstens zwei Wochen dauert, wenn es doch darum geht, meine Ehefrau zu finden?“, fragte Harcroft mürrisch.
Jenny mied seinen Blick.
In Harcrofts Anwesenheit durfte Ned nicht mit der Wahrheitherausrücken, sondern musste sich ein geschicktes Ablenkungsmanöver ausdenken. Wenn ihm das gelang, würde nie wieder ein Mensch behaupten können, er sei zu nichts zu gebrauchen. Am allerwenigsten er selbst.
„Du hast völlig recht, Harcroft“, hörte Ned sich sagen.
Alle drei Gesichter wandten sich ihm zu. „Die Angelegenheit ist zu wichtig, um sie auf die leichte Schulter zu nehmen. Ich schlage vor, Harcroft, du reist selbst nach Chelsea.“ Er wandte sich an seinen Cousin. „Ihr beiden kehrt am besten nach Blakely Manor zurück. Es liegt näher an London. Von dort könnt ihr, sobald sich Neuigkeiten ergeben, an den Ort reisen, wo ihr gebraucht werdet.“
Harcroft schwieg nachdenklich, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, der Vorschlag taugt nichts. Ich muss hierbleiben, um die Gegend gründlich zu erforschen. Falls es sich bei der Frau, die in der Nähe gesehen wurde, tatsächlich um Louisa handelt, darf sich ihre Spur nicht verlieren. Dieses Risiko kann ich nicht eingehen.“
„Wenn du mir den Einwand gestattest, Harcroft, halte ich es für vernünftiger, wenn ich hier Nachforschungen anstelle, da ich die Bewohner kenne und sie mich. Im Übrigen …“, Ned kam sich ein wenig schäbig vor, aber unter diesen Umständen war jede Lüge der Wahrheit vorzuziehen, „… kannst du mir vertrauen, in deinem Sinne zu handeln.“
Jenny verengte die Augen, und Ned fixierte die Nadeln auf der Landkarte. Er war nie ein guter Lügner gewesen, und Jenny hatte eine verdammt gute Beobachtungsgabe. Er durfte sich jetzt nicht auf eine Debatte mit ihr einlassen. Nun galt es einzig, Harcroft zu überzeugen.
Also setzte er seiner Rede noch die Spitze auf. „Außerdem steht zu befürchten, dass Lady Blakely sich durch weibliche Interessen ablenken ließe. Und dieser Sache muss größtmögliche Aufmerksamkeit gewidmet werden.“
Selbst Gareth hob verdutzt den Kopf über diese phänomenale Heuchelei.
„Ned, versuchst du etwa, mich zu provozieren?“ Jennys Tonfall hatte eine gefährliche Note angenommen.
„Wir reden später darüber“, antwortete er, hielt den Blick dabei allerdings auf Harcroft gerichtet.
Der erwiderte seinen Blick. Eine Eigenschaft des Earls, der keinen Sinn für Humor besaß, bestand darin, dass er auch Sarkasmus nicht durchschaute. Nichts deutete darauf hin, dass ihm etwas an Neds unaufrichtiger Rede verdächtig erschien. Es gab für Ned also nichts weiter zu tun, als die Aufgaben zu verteilen, ohne sich seine Erleichterung anmerken zu lassen.
Nach einer Weile verließ Gareth das Zimmer, um den Dienstboten Anweisungen zu geben, die Koffer zu packen. Jenny blieb während des weiteren Gesprächs stumm. Ned spürte nur ihre Blicke auf sich.
„Ha.“ Harcroft rieb sich die Hände.
Es war nicht kalt im Zimmer, dennoch rieselte Ned ein Frösteln über den Rücken.
Der Earl neigte sich ihm zu und raunte: „Pass auf deine Frau auf, Ned. Ich weiß, du willst meine Warnungen nicht hören. Aber ich habe mit der Dienerschaft gesprochen. Sie verließ zweimal letzte Woche das Haus zu Spaziergängen – zu ausgedehnten Spaziergängen, wohlgemerkt. Und vor unserer Ankunft hat sie offenbar eine Nacht außer Haus verbracht.“
„Harcroft, dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Spekulationen über …“
„Nein.“ Harcroft erhob sich und rieb sich wieder die Hände, als wasche er sie in Unschuld. „Ein Gentleman stellt keine Vermutungen über die Neigungen einer Dame an. Die Tochter eines Dukes
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