Im Visier des Verlangens
fähig halten könnte, einen eigenen Gedanken zu fassen, wobei er diese Fähigkeit vermutlich keiner einzigen Frau zugestand.
„Ich verstehe Ihren Unmut. Aber versuchen Sie doch, Einsicht zu haben. Ich habe mich nie an solchen Gesprächen beteiligt. Sie und ich, wir mögen vielleicht nicht die besten Freunde sein, aber ich bin mit Louisa befreundet und will ihr helfen.“ Jedes Wort entsprach der Wahrheit. Und sie hatte sich auch nicht an besagtem Gespräch beteiligt, weil sie vor Lachen kein Wort hervorgebracht hatte.
Er beäugte sie missgestimmt. Ehe er zu einer Entgegnung ansetzen konnte, wurden Schritte laut.
„Harcroft?“ Lord Blakely tauchte hinter ihm auf. „Gut. Ich habe dich gesucht. Interessante Neuigkeiten aus London. White hat die Spur einer Frau ausfindig gemacht – ein Kindermädchen –, die aus ihrer Wohnung in Chelsea verschwunden ist.“
Harcroft wirkte verwirrt. „Chelsea? Aber ich war mir so sicher …“ Er stockte. „Ich dachte … Na ja, egal.“
Kate hörte mit ernster Miene zu. Keiner der Herren durfte Verdacht schöpfen, dass sie es war, die ein Kindermädchen ausfindig gemacht hatte sowie ein Stubenmädchen, das eine auffallende Ähnlichkeit mit Louisa aufwies, und beide Frauen in eine Postkutsche in den Peak District der Grafschaft Yorkshire gesetzt hatte. Ein bravouröses Ablenkungsmanöver. Und nun mussten die Herren ihr nur noch den Gefallen tun, dieser Spur zu folgen.
„Ein interessanter Hinweis“, wiederholte Lord Blakely stirnrunzelnd. „Nun gilt es zu entscheiden, wie wir vorgehen.“ Damit machte er kehrt und verschwand im Korridor.
Harcroft warf Kate einen letzten bösen Blick über die Schulter zu. „Ich muss mich entschuldigen“, sagte Kate mit gedämpfter Stimme. „Der Vergleich mit der Wäscherin warsehr unfair. Ich hätte ihn nicht erwähnen dürfen.“
Er nickte knapp. „Entschuldigung angenommen.“
Kate blickte den Herren hinterher, bis ihre Schritte im glänzend polierten Korridor verklangen und eine Tür hinter ihnen ins Schloss fiel.
„Ein höchst unfairer Vergleich“, erklärte sie der leeren Halle. „Schließlich knetet eine Wäscherin ihre Wäsche länger als zwei Minuten.“
„Wie wollen wir also vorgehen? Sollen Jenny und ich nach Chelsea reisen, während du hier die Stellung hältst, Harcroft?“
Bei der Frage seines Cousins rutschte Ned unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Kurz nach seiner Rückkehr von der Weide hatte der Rat sich versammelt. Jenny, Harcroft, Gareth und Ned saßen an dem langen Mahagonitisch. Auffallend war, dass Neds Ehefrau nicht an dem Treffen teilnahm. Harcroft hatte nicht davon gesprochen, sie dazuzubitten. Angesichts der Informationen, die Ned mittlerweile vorlagen, war er froh um ihre Abwesenheit.
Ihm gegenüber saß Jenny, die schmallippig in Harcrofts Richtung blickte. Der Earl war Neds Freund, bis vor Kurzem, nicht unbedingt der von Jenny und Gareth. Ned hatte ihm die Blakelys vorgestellt und ihn um Unterstützung gebeten, das Paar in die Gesellschaft einzuführen. Ohne Harcrofts Fürsprache wären sie womöglich auf eisige Ablehnung gestoßen. So aber mussten sie nur ein paar Monate argwöhnische Blicke und Getuschel ertragen, und auch das verstummte, sobald der neueste Skandal ruchbar wurde. Jedenfalls fühlte Jenny sich Harcroft gegenüber gewissermaßen verpflichtet, und es lag ihr zweifellos daran, diese Rechnung zu begleichen.
Mehr als eine Verpflichtung empfand sie allerdings nicht für Harcroft.
Vielleicht quittierte sie den Vorschlag ihres Gemahls deshalb mit einem Kopfschütteln. „Gareth“, wandte sie schließlich ein. „Wir sind bereits mehrere Tage unterwegs. Wenn wirjetzt nach Chelsea reisen …“
Auf dem Tisch lagen Papiere. Berichte von Gareths Sekretär neben Harcrofts selbst gefertigter Umgebungskarte, in der die Nadeln steckten.
Gareth wandte sich seiner Frau zu. Sein stark ausgeprägtes Verantwortungsgefühl gebot ihm, vor keiner Aufgabe zurückzuweichen, um nicht als Drückeberger zu erscheinen. „Jemand muss nach Chelsea reisen“, erklärte er. „Jemand, dem wir vertrauen können.“
Harcroft nickte.
Nervös trommelte Jenny mit den Fingern auf der Tischplatte, aber sie schwieg.
Sie musste ihre Gedanken nicht in Worte fassen, jedenfalls nicht für Ned. Die meisten Damen des ton hatten keine Bedenken, ihre Sprösslinge der Obhut eines Kindermädchens zu überlassen. Jenny indes war als kleines Mädchen von ihrer eigenen Mutter sträflich vernachlässigt worden, und die
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