Im Wald der stummen Schreie
Die Admiräle. Die Angehörigen der Militärregierungen. Die meisten werden durch die Maschen des Netzes schlüpfen. Aus einem einfachen Grund: Sie sind zu alt. Im günstigsten Falle sterben sie vor Beginn ihres Prozesses. Im schlimmsten Fall werden sie in ihren Luxusvillen, erworben mit dem Vermögen, das sie während der Diktatur anhäuften, unter Hausarrest gestellt.
Jeanne sah vom Bildschirm auf und wandte sich zu Antoine Féraud um. Ein Blickwechsel genügte, und sie verstanden einander. Sie suchten einen Amateurmörder in einem Land von Profi-Killern. In diesem Umfeld von Gemetzeln und Prozessen war es Alfonso Palin gelungen, zu verschwinden.
Pellegrini dagegen spielte den Mann von Ehre.
Jeanne wandte sich wieder den Artikeln zu, die sich mit ihm befassten. Seit dem Beginn der Prozesse hatte er ständig von sich reden gemacht. Gegen El Puma , den starken Mann von Campo Alegre, waren mehrere Anklagen erhoben worden. Pellegrinis Verantwortung für Verbrechen stand außer Zweifel. Sein Name tauchte in Organisationsplänen auf. Er hatte sogar – was äußerst selten war – Befehle eigenhändig unterzeichnet. Morde. Folterungen. Das Verschwindenlassen von Gefangenen ...
Trotz dieser Beweise wurde Pellegrini mehrmals freigesprochen. In anderen Prozessen wurde er verurteilt. Doch er ging immer gleich in Berufung, sodass er seine Strafen nie antreten musste. Obwohl er unter Hausarrest stand, führte er ein angenehmes Leben. Ohne sich um Diskretion zu scheren, veranstaltete er in seiner Villa Partys und hatte sein Geld sogar in einen Fußballklub investiert. An dem ehemaligen Folterknecht führte kein Weg vorbei, wenn es um den argentinischen Sport ging. Er erwirkte Sondergenehmigungen, die es ihm erlaubten, Spielen beizuwohnen oder an Fernsehsendungen teilzunehmen.
Jeanne druckte sein Foto aus. Ein hochgewachsener Mann in den Siebzigern mit Bürstenfrisur, einer eleganten, getönten Brille und dem Lächeln eines satten Krokodils.
»Den müssen wir uns vorknöpfen«, sagte sie schließlich.
»Und wie sollen wir ihn finden?«
Sie schaltete den Rechner aus.
»Ich hab da eine Idee.«
67
Das Büro der Madres de Plaza de Mayo befand sich südlich der Avenida Corrientes. Jeanne fiel es nicht schwer, die Adresse zu finden – die Mütter hatten ein eigenes Haus. Das Taxi fuhr über die Plaza de Mayo, vorbei am Präsidentenpalast, dann durch die Avenida J. A. Roca, um auf die Calle Piedras zu gelangen.
Während der Fahrt erklärte Jeanne Féraud ihren Plan. Seit dreißig Jahren bildeten die Mütter eine einzigartige Front des Widerstandes gegen die Generäle. Sie hatten regelrechte Ermittlungsteams zusammengestellt, in die sie Rechtsanwälte, Detektive, Genetiker, Pathologen einbezogen ... Sie sorgten dafür, dass die Verbrecher nicht ruhig schlafen konnten. Umso mehr, als sie sich regelmäßig vor deren Häusern versammelten und skandierten: »La casa no es un penal!« (»Das Haus ist kein Gefängnis!«) oder auch: »Si no hay justicia, hay escrache popular!« (»Wenn es keine Gerechtigkeit gibt, gibt es öffentliche Anprangerungen!«) Auf ihrer ersten Reise hatte Jeanne an einer dieser Kundgebungen teilgenommen. Diese alten Frauen mit weißen Kopftüchern, die sangen, schrien und zum Klang ihrer Trommeln lauthals Gerechtigkeit einforderten, hatten einen tiefen Eindruck auf sie gemacht.
In den letzten Jahren hatten sie eine weitere Vereinigung gegründet – »Abuelas de Plaza de Mayo« (Großmütter von der Plaza de Mayo). Sie wollten die Kinder, die während der Diktatur ihren rechtmäßigen Eltern weggenommen worden waren, identifizieren und sie über ihre wahre Herkunft unterrichten. Zwischen 1976 und 1983 waren Säuglinge, die schwangere Gefangene zur Welt gebracht hatten, in »ehrenwerte« – also politisch dem Regime nahestehende – Familien gegeben worden. Manchmal gab ein Offizier einen Säugling in die Obhut seiner unfruchtbaren Zugehfrau. Andere hatten einen regelrechten Handel organisiert und die Kinder an reiche Familien verkauft. Hunderte von Kindern hatten auf diese Weise ihre Identität verloren, waren abgeschnitten von ihren Wurzeln, während sie von Bekannten und Sympathisanten derjenigen aufgenommen wurden, die ihre Eltern auf dem Gewissen hatten.
Die Abuelas hatten eine breit angelegte Sensibilisierungskampagne organisiert und alle dreißigjährigen Argentinier, die Zweifel an ihrer Abstammung hegten, aufgefordert, in ihren Büros eine Blutprobe abzugeben. Anschließend wurde ihre DNA
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