Im Wald der stummen Schreie
alle Subversiven töten, dann ihre Kollaborateure, danach ihre Sympathisanten, danach die Unentschlossenen und schließlich die Lauen.«
Es beginnt die Ära der Entführungen. Militärs in Zivil fahren in grünen Ford Falcone ohne Nummernschild umher. Sie kidnappen Männer, Frauen und Kinder. Es kann einen überall treffen – auf der Straße, am Arbeitsplatz, in der Wohnung. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Für die Zeugen lautet die Parole: »No te metas.« (»Misch dich nicht ein.«) In einer Atmosphäre erzwungener Gleichgültigkeit verschwinden Tausende von Menschen.
Das »Beste« ist dabei die Methode der Beseitigung. Nachdem die Hunderte, ja Tausende subversivos gefoltert worden sind, muss man sie loswerden. Jetzt kommt die Stunde von el vuelo . Die Gefangenen werden angeblich geimpft, bevor sie in eine andere Haftanstalt verlegt werden sollen. Eine erste Betäubungsspritze nimmt ihnen jeglichen Willen zum Widerstand. In diesem Zustand der Benommenheit werden sie an Bord eines Frachtflugzeugs gebracht. Eine zweite Spritze während des Fluges betäubt sie vollständig. Die Militärs entkleiden sie nun, öffnen das Tor der Luftschleuse und werfen die nackten Körper in die Fluten des Südatlantiks. Tausende von Gefangenen verschwinden auf diese Weise. Abgeworfen aus zweitausend Metern Höhe, werden sie beim Aufprall auf der Meeresoberfläche zerschmettert. Von allen Haftanstalten aus werden jede Woche mehrere solcher »Entsorgungsflüge« aufs offene Meer organisiert. Die Militärs halten das für die perfekte Lösung, um einer möglichen internationalen Strafverfolgung zu entgehen. Keine Leichen, keine Spuren, kein Ärger ...
Dennoch führt gerade dieses massenhafte spurlose Verschwinden zu einer breiten öffentlichen Auflehnung in Buenos Aires. Schon 1980 fordern wütende Mütter Auskunft über das Schicksal ihrer Kinder. Wenn sie tot sind, soll man ihnen wenigstens ihre sterblichen Überreste übergeben. Diese Frauen werden zu den berühmten »Madres de Plaza de Mayo« . Die Militärs nennen sie nur abfällig »Die verrückten Weiber vom Mai-Platz«. Sie demonstrieren unermüdlich jeden Donnerstag gegenüber der Casa Rosado, dem Präsidentenpalast. So werden sie zum Symbol einer Bevölkerung, die wenigstens ihre Toten beisetzen will, wenn sie schon nicht der Diktatur entkommen kann.
1982 lässt sich die Militärjunta auf das Abenteuer eines Krieges um die Falkland-Inseln ein. Innerhalb weniger Wochen und nach der Versenkung einiger Kriegsschiffe wird Argentinien von den Briten vernichtend geschlagen. Die Generäle geben 1983 die Macht ab, nicht ohne sich zuvor selbst eine Amnestie zu gewähren.
Aber diese Strategie geht nur halb auf. Die demokratische Regierung setzt eine nationale Kommission zur Aufklärung des Schicksals verschwundener Personen ein (die CONADEP), deren Abschlussbericht mit dem Titel »Nunca más« (»Nie wieder«) das ganze Ausmaß de Grauens an den Tag bringt. In dem Bericht ist von 30 000 Verschwundenen die Rede – eine Zahl, die von amtlicher Seite auf 15 000 reduziert wird. Die Foltermethoden werden aufgeführt. An erster Stelle die picaña , ein elektrischer Stachelstock, der an verschiedenen Körperteilen angesetzt wird: Lidern, Zahnfleisch, Achseln, Genitalien ... Von den Zeugen wurden auch andere Techniken beschrieben: systematische Vergewaltigungen von Frauen, Amputation mit elektrischen Sägen, Verbrennungen mit Zigaretten, Ausschälen des Augapfels, Einführung lebender Nagetiere in die Vagina, Verstümmelung der Genitalien mit einem Rasiermesser, Vivisektion ohne Betäubung, Herausreißen der Finger- und Zehennägel, Hunde, die darauf abgerichtet waren, Gefangene zu beißen oder zu vergewaltigen ...
Wie soll man solche Taten bestrafen? Die demokratische Regierung von Raúl Alfonsín kann nicht mehr zurückweichen: Ungeachtet der Gefahr eines neuerlichen Staatsstreichs kommt es zu Festnahmen und Prozessen. Nunmehr beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen den Angeklagten und der zivilen Regierung, die bald mit Gerichtsverfahren droht, bald Amnestiedekrete erlässt. So etwa das »Schlussstrichgesetz« ( »Punto Final« ) im Jahr 1986, das einen Stichtag für Strafanzeigen festlegt und so erlaubt, die strafrechtliche Verfolgung von Militärs auszusetzen. Oder, im Jahr 1987, das »Befehlsnotstandsgesetz« ( »Obediencia Debida« ), das jeden Soldaten, der auf Anweisung seiner Vorgesetzten gehandelt hat, vor Strafverfolgung schützt.
Bleiben die hohen Amtsträger. Die Generäle.
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