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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Es war das schönste Gefängnis, das Jeanne je gesehen hatte.
    Über dem Rasen ragten Trauerweiden, hundertjährige Eichen, erhabene Sykomoren auf. Darunter hantierten Köche, gekleidet wie französische Küchenchefs – weiße Kochmütze und weiße Schürze –, mit ganzen Bergen von Fleisch. Die Gäste Pellegrinis warteten in aller Ruhe mit Tellern in der Hand ...
    Jeanne hatte gedacht, hier auf Generäle in Uniform und alte Damen im Kostüm zu treffen. Noch so ein Klischee ... Das Ganze erinnerte eher an eine Garden-Party in einem Club-House in Miami. Trotz ihres hohen Durchschnittsalters hatten sich die Männer gut gehalten, sie waren braungebrannt und schick gekleidet: Bundfaltenhosen, Polohemden von Ralph Lauren und Golfschuhe. Ihre Frauen hätten vom Alter her ihre Enkelinnen sein können. Viele waren bereits geliftet. Ihre asiatisch wirkenden gespannten Züge waren typisch für Menschen, die sich ihre Gesichtshaut straffen lassen. Die Modepüppchen trugen Gucci, Versace oder Prada und schienen sich vor nicht allzu langer Zeit um den Titel der Miss Argentinien oder Miss Lateinamerika beworben zu haben.
    Diktaturen halten einen jung , sagte sich Jeanne. Diese Offiziere, die getötet, gefoltert, eingesperrt hatten und seit dreißig Jahren von der Justiz ihres Landes verfolgt wurden, waren frisch und munter. Sie sahen in aller Ruhe ihrem Prozess entgegen, denn sie wussten, dass die argentinische Justiz auf jeden Fall langsamer arbeiten würde als der Sensenmann.
    Jeanne warf Féraud einen Blick zu. Er starrte auf die Fleischberge, die auf den Grillrosten aufgeschichtet waren.
    »Fehlt Ihnen etwas?«
    »Ich ... ich bin Vegetarier.«
    Wirklich, dieser Psychiater eignete sich so gut für die Eroberung Argentiniens wie sie für die Teilnahme an einem Wettbewerb mit nassen T-Shirts.
    »Da sind ja meine kleinen Franzosen!«
    Sie wandten sich zu der Stimme um, die gerade diese Worte auf Spanisch geschrien hatte. Ein Hüne in dunkelblauer Fleecejacke und tadellos geschnittener weiter Jeans steuerte auf sie zu. Kurzgeschnittenes graues Haar, ein Schnurrbart, der an eine kleine Bürste aus Stahlwolle erinnerte, elegante Brille mit Golddublee-Gestell. Diese metallischen Linien unterstrichen noch die Kantigkeit seines Gesichts. Ein kräftiges Raubtiermaul, das ständig in Bewegung war. El Puma mochte etwa fünfundsiebzig sein, doch er sah zwanzig Jahre jünger aus.
    »Was führt euch zu mir, muchachos ?«
    In der Rechten hielt El Puma einen Teller mit einem Stück Rindfleisch, so groß wie eine Pizza. In der Linken ein Glas Rotwein, das an einen Humpen frischen Blutes erinnerte. Ein strahlender Menschenfresser. Jeanne stellte sich das Gesicht Pellegrinis vor, wenn die Madres de la Plaza Mayo vor seinem Haus demonstrierten. Wahrscheinlich ließ er seine Hunde auf sie los und vertrieb sie mit einem Kärcher-Hochdruckreiniger.
    Sie tischte ihm wieder die gleiche Geschichte auf. Die Nachforschungen. Das Buch. Die Generäle.
    »He, he, he«, gurrte er vollkommen ungezwungen, »Menschen, die in Erinnerungen schwelgen, wie?«
    Dann sah er sich nach einem stillen Winkel um, in den sie sich zurückziehen könnten. Er deutete auf einen Tisch aus Teak im Schatten einer Sykomore. Jeder nahm sich einen Stuhl.
    Der Offizier zog die Augenbrauen hoch, als er ihre leeren Hände sah.
    »Sie essen nichts?«
    Jeanne fischte sich aus einem Korb in der Mitte des Tischs eine empanada heraus – eine Teigtasche mit Fleischfüllung. Pellegrini forderte Féraud mit einer Geste auf, ihrem Beispiel zu folgen. Doch der Psychiater schüttelte nur den Kopf.
    »Wer hat Ihnen meine Adresse gegeben?«
    »Das Büro der Madres de la Plaza Mayo .«
    »Nutten!«
    »Wir haben nur ...«
    »Alles Nutten!« El Puma schwang sein Messer. »Die unter der Fuchtel der Obernutte Cristina Kirchner stehen! Wussten Sie, dass dieses Miststück die närrischen alten Weiber mit gigantischen Summen unterstützt? Während das Land am Rand des Abgrunds steht!«
    Cristina Fernandez Kirchner war ihrem Ehemann im Amt des Staatspräsidenten nachgefolgt. Jeanne erinnerte sich, dass das Paar den Obersten Gerichtshof reformiert hatte, der daraufhin die Amnestiegesetze für verfassungswidrig erklärte. Damit taten sie dem alten Pellegrini keinen Gefallen.
    »Diese verrückten Weiber von der Plaza Mayo sind Schwindlerinnen. In Wirklichkeit leben ihre Söhne irgendwo in Europa in Saus und Braus!«
    Was für eine Verdrehung der Wahrheit! Aber es wunderte Jeanne nicht, dass in Buenos Aires

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