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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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mit der DNA derjenigen verglichen, die unter dem Regime verschwunden waren – das heißt mit dem Blut der Großmütter, die alle mit den Opfern verwandt waren. Aufgrund dieser Vergleiche war es möglich, zahlreiche geraubte Kinder zu identifizieren und ihnen ihre wahren Eltern – oder zumindest deren Namen – zurückzugeben.
    Diese Mütter und Großmütter waren zu Expertinnen geworden, die am besten über ihre Feinde Bescheid wussten. Sie hatten Akten, Archivmaterialien und Organigramme zusammengestellt. Sie kannten die Adressen der Folterer in Buenos Aires. Die Tricks und Kniffe, mit denen sie sich der Justiz entzogen. Ihre finanziellen Machenschaften. Das Netz ihrer Anwälte. Mithin war diese Vereinigung die ideale Anlaufstelle, um Vinicio Pellegrini ausfindig zu machen. Allerdings mussten sie befürchten, dass das Büro am Sonntag geschlossen war.
    Das Taxi hielt vor dem Haus Nr. 157 der Calle Piedras. Jeanne bezahlte ein weiteres Mal und warf Féraud einen verärgerten Blick zu. Doch das, was sie sah, besänftigte sie. Mit seinem fahlen Teint und zerzaustem Haar wirkte er angespannt und bedrückt. Der Psychiater sah zehn Jahre jünger aus als bei ihrer ersten Begegnung im Grand Palais. Er glich einem Studenten, der gerade von der Polizei aufgegriffen und mit dem Knüppel auf den Kopf geschlagen worden war. Jeanne rief sich in Erinnerung, dass er morgens im Flugzeug das Tagebuch von Pierre Roberge gelesen hatte. Hinzu kam jetzt die Geschichte mit den Folterungen in Argentinien. Für einen Salon-Psychiater war das vielleicht etwas zu viel ...
    Einen Moment lang bewunderte sie die Schönheit seines Gesichts, seine schwarzen Augen, seine hübsch geformten Brauen, die sie an einen mexikanischen Schauspieler denken ließen. Ein gutaussehender Mann. Aber ungeeignet für Nachforschungen vor Ort. Sein Anblick berührte sie. Unwillkürlich strich sie eine seiner Strähnen zurecht. Eine zärtliche Geste, die sie sogleich bereute. Um das Maß voll zu machen, klopfte sie ihm auf die Schulter und rief, während sie die Wagentür öffnete:
    »Vamos, compañero!«
    Die Calle Piedras wirkte kalt und völlig ausgestorben. Die Gebäude schienen unbewohnt zu sein. Da sie nicht den Zugangscode für das Haus Nr. 157 kannten, mussten sie zehn Minuten warten, bis jemand aus dem Gebäude kam. Ihnen war kalt. Ihnen war heiß. Die Übernächtigung und die unbequemen Flugstunden forderten ihren Tribut.
    Auch im Innern wirkte alles verwaist. Ein endloser Gang. Graue Wände. Ein brauner Boden mit eingelassenen weißen Fliesen. Eine Tür nach der anderen – alle vollkommen gleich. Sie gelangten zum Aufzug – einem Lastenaufzug mit einer Gittertür. Dritter Stock. Wieder ein Flur und eine Flucht von Türen. Der Eingang zum Büro der »Madres« befand sich am Ende – darüber klebte ein Schwarz-Weiß-Foto der Plaza de Mayo.
    Jeanne läutete. Keine Antwort. Schon wollten sie ins Hotel zurückkehren, sich ein kleines Restaurant suchen und bis zum nächsten Morgen Touristen spielen. Doch nach einigen Sekunden klapperte ein Riegel. Die Tür ging auf. Es war absurd, aber Jeanne erwartete, dass eine alte Frau – halb Madonna, halb Hexe – auftauchen würde.
    Die Person in der Tür hatte nichts mit dieser Klischeevorstellung gemein. Ein etwa fünfzigjähriger Mann, der ein rosa gestreiftes Hemd, eine gut geschnittene Bundfaltenhose und Mokassins mit Troddeln trug. Eher ein Bankier als ein ehrenamtlicher Aktivist.
    Jeanne stellte sich und Féraud vor und erklärte, sie seien aus Paris gekommen, um ... Der Mann unterbrach sie in einem holprigen Französisch:
    »Paris? Ich kenne Paris sehr gut!« Er lachte laut auf. »Dort habe ich einen Teil meines Studiums absolviert. Die Sorbonne! Georges Bataille! Das Filmarchiv!«
    Eine passende Einstimmung. Ein Intellektueller. Reif für ein Lügenmärchen nach Maß: zwei Autoren, die ein Buch über die gerichtliche Aufarbeitung von Verbrechen unter Diktaturen verfassten. Der Mann hörte kaum zu. Er trat zurück und lachte wieder laut und kräftig.
    »Kommen Sie herein! Ich heiße Carlos Escalante. Auch ich bin Journalist. Man hat mir die Büroschlüssel gelassen, damit ich meine Recherchen durchführen kann.«
    Sie betraten einen Raum, der mit Eisenregalen, Holzschubladen und Sperrholzschränken vollgestellt war. Archivunterlagen bis unter die Decke. Schilder auf den Türen trugen die Beschriftungen »Desaparecidos« oder »Buscar al hermano« .
    Aus Höflichkeit fragte Jeanne:
    »Worüber arbeiten Sie?

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