Im Wald der stummen Schreie
Über die Menschen, die unter der Diktatur verschwunden sind?«
»Nein, über die geraubten Kinder, die heimlichen Schwangerschaften.«
Jeanne warf Féraud einen Blick zu, was Escalante nicht entging.
»Interessiert Sie das Thema?«
»Ja, wir wollen dem Problem ein eigenes Kapitel widmen. Ich meine mich zu erinnern, dass mehrere Täter verurteilt wurden ...«
»Man muss über die Identität der Täter Klarheit gewinnen. Und über die Natur der Verbrechen ...«
Carlos Escalante bat sie, an einem Tisch Platz zu nehmen, auf dem mehrere Rechner standen. Der Argentinier wirkte leutselig und heiter, was in diametralem Gegensatz zu ihrem Gesprächsthema stand. Der Mann begann:
»Interessanterweise sind Verbrechen gegen Minderjährige in Argentinien unverjährbar. Sie bleiben von den Amnestien ausgenommen. Diese Fälle geraubter Kinder erlaubten es daher, Generäle zu verurteilen, die in den anderen Anklagepunkten freigesprochen worden waren. Sogar Jorge Rafael Videla wurde 1998 verurteilt. Er wurde als Drahtzieher der Entführung der Kinder, der Unterdrückung ihrer Personenstandsurkunden und der Fälschung ihrer Identität schuldig gesprochen. Heute nehmen diese Fälle eine merkwürdige Wendung. Einige Kinder haben ihre Adoptiveltern sogar verklagt ...«
Jeanne versuchte sich diese albtraumhafte Welt vorzustellen. Frauen, die in den Folterzentren niederkamen. Kinder, die man wie Weihnachtsgeschenke überreichte. Folterknechte, die die Nachkommen ihrer eigenen Opfer großzogen. Dreißigjährige, die ihre Adoptiveltern jetzt auf die Anklagebank zerrten und sich mit Gebeinen identifizierten, die in der Wüste oder an der Küste von Uruguay aufgefunden wurden ...
»Sind die Militärs jetzt im Gefängnis?«
Escalante lachte abermals auf.
»In Argentinien geht niemand ins Gefängnis! Man bleibt in seinen vier Wänden, das ist alles.«
»Sind Sie bei Ihren Recherchen auch auf einen Fall gestoßen, der ein Kind namens Joachim betraf?«
»Wie lautet sein ursprünglicher Familienname? Und der seiner Adoptiveltern?«
Sie zögerte und log dann:
»Ich weiß nicht.«
»Ich kann recherchieren, wenn Sie wollen. Wer ist das?«
»Ein Kind, von dem wir gehört haben. Wir wissen nicht einmal, ob es dieses Kind wirklich gibt.«
Der Journalist runzelte die Stirn. Um weiteren Fragen zuvorzukommen, lenkte sie das Gespräch rasch in eine andere Richtung:
»Tatsächlich suchen wir die Adresse von Oberst Vinicio Pellegrini.«
Das Lächeln kehrte zurück:
» El Puma ? Kein Problem. Man braucht nur die Zeitung aufzuschlagen, die Rubrik ›Leute‹. Aber ich kann das für Sie herausfinden.«
Escalante rollte auf seinem Bürostuhl durch den Raum wie ein vielbeschäftigter Zahnarzt und begann in einer Eisenschublade zu kramen.
»Da ist sie. Ortiz de Campo 362. Das schickste Viertel von Buenos Aires: Palermo Chico.«
»Glauben Sie, dass er mit uns sprechen wird?«
»Aber klar! Pellegrini ist das genaue Gegenteil der anderen Generäle. Ein Großmaul. Ein Provokateur. Und zugleich ein recht charismatischer Typ. Zumindest drischt er keine Phrasen.«
Jeanne und Féraud erhoben sich gleichzeitig. Der Journalist reichte ihnen den Zettel, auf dem er die Adresse notiert hatte.
»Sie können jetzt gleich hinfahren. Sie werden ihn mit Sicherheit im Kreis seiner Freunde antreffen. Sonntag ist der Tag des asado . Nichts ist uns heiliger als das Grillen!«
68
Gegrillte Steaks. Rauchende churrascos. Zähflüssige Soßen. Verkohlte Würste ... All dies brutzelte, knisterte, loderte auf einem mehrere Meter langen Holzkohlengrill. Für sein asado hatte Vinicio Pellegrini groß aufgefahren.
Das Viertel Palermo Chico liegt im Nordwesten der Stadt. Villen im französischen Stil, herrschaftliche Stadthäuser, englische Landsitze zwischen Bäumen und umrankt von wildem Wein. Selbst die Stromleitungen sind von Efeu überwuchert, wie um die luxuriösen Domizile und die Hütten der Hausmeister besser zu verbergen.
Kameras. Sprechanlagen. Wachleute. Hunde. Metalldetektoren. Durchsuchung. Jeanne und Féraud mussten all dies über sich ergehen lassen, ehe sie endlich in den Garten des Anwesens von Pellegrini vorgelassen wurden. Ihre französische Staatsangehörigkeit hatte ihnen die Türen geöffnet. Die Villa war moderner als die anderen Gebäude des Viertels. Ein heller Block mit strengen Linien im Stil von Mallet-Stevens, verziert mit rechteckigen Türmchen und künstlerisch gestalteten Glaswänden. Hier also stand Pellegrini unter Hausarrest.
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