Im Wald der stummen Schreie
zeichneten sich in dem üppigen Grün helle Siedlungen und weiße Häuser ab. Schmale Häuser mit einigen wenigen Fenstern. Eine Stadt wie aus Würfelzucker und von überirdischer Schönheit.
Avenida 9 de Julio. An der Hauptverkehrsader von Buenos Aires entfaltete sich ein Panoptikum der Architektur. Gewaltige Gebäude, die unterschiedlichste Stile, Epochen und Materialien miteinander verbanden. Üppig wachsende, edle und dicht belaubte Bäume: Tipuanas , Sykomoren und Lorbeerbäume, die mit ihren leichten Schatten die Fassaden streiften. Die ganze Stadt vibrierte. Der Klang eines Beckenschlags in der Wintersonne.
Jeanne sah nicht nur dies. Mit den Straßen, den Gebäuden, den Portalen kehrten ihre Erinnerungen zurück. Der Duft des Geißblattes im lauen Frühlingswind. Die blauen und malvenfarbigen Blütenmeere der Jacaranda- Bäume. Der Verkehrslärm, der am Abend auf der Plaza San Martín am Fuße riesiger Lorbeerbäume mit der Dunkelheit verschmolz ...
Sie hatte dem Chauffeur ein Hotel im nordöstlich gelegenen Stadtteil Retiro genannt, das sie kannte: das Hotel Jousten in der Calle Arroyo. Vor allem diese Straße war ihr nachhaltig in Erinnerung geblieben: eine Verkehrsader, die unter den Bäumen verschwand wie ein Fluss unter Weiden – in Schlangenlinien, was in dieser schachbrettartig entworfenen Stadt eher selten ist.
Calle Arroyo Nr. 932. Jeanne bezahlte das Taxi. Féraud zückte seinen Geldbeutel nicht leicht. Im Schatten waren es nur wenige Grad über null, und sie hatte sich noch immer keinen Pullover gekauft ... Diese winterliche Atmosphäre unterschied sich sehr von den Eindrücken ihrer ersten Reise. Aber die Straße war noch genauso schön. Die Gebäude, die über den Wipfeln der Bäume aufragten, strahlten eine außerordentliche Erhabenheit aus. Quadersteine, abgerundete Kanten, ziselierte Balkone: Sämtliche Etagen waren geschmackvoll und elegant gestaltet.
Im Hotel waren noch zwei Zimmer frei. Im selben Stockwerk, aber nicht nebeneinander. Umso besser. Sie waren schließlich nicht hier, um zu schäkern. Auch wenn diese Vorstellung in Guatemala etwas ganz Selbstverständliches hatte. Aber das schien jetzt bereits weit weg zu sein ...
Jeanne duschte. Nach zehn angenehmen Minuten unter dem prasselnden Wasserstrahl verließ sie die Kabine aufgewärmt und neu belebt. Ein weiteres Mal streifte sie sich mehrere T-Shirts und Polohemden über. Sie hatte sich für zwölf Uhr mit Féraud in der Lobby verabredet.
Das Ziel war klar.
Sie wollten die Spur von Admiral Palin und von Oberst Pellegrini aufnehmen.
66
Jeanne nannte dem Chauffeur die Adresse des Verlagssitzes von Clarín , der linksorientierten Zeitung von Buenos Aires – sie hatte sich ein Exemplar an einem Kiosk gekauft. Sie hoffte, dass jemand an diesem Sonntag Bereitschaftsdienst hatte und ihnen Zutritt zum Archiv gewähren würde.
Die Redaktion hatte ihren Sitz in der Avenida Corrientes im Osten, im Viertel San Nicolás. Das Taxi fuhr durch ein menschenleeres Geschäftsviertel, wo auf einem kleinen Rasenplatz der Torre de los Ingleses aufragte. Ringsherum warfen Gebäude im amerikanischen Stil ihre Schatten. Das Viertel strahlte eine herzzerreißende, tragische Einsamkeit aus, die eine beinahe metaphysische Angst auslöste.
Der Wagen fuhr in engere, belebtere Straßen hinein. Das andere Gesicht von Buenos Aires: dunkle Hauseingänge, vergitterte Balkone, mit blühenden Büschen verzierte schmale Fenster. Und überall die Sonne. Zwar matt und gedämpft, aber immer noch sozusagen auf dem Sprung. Hier das Aufleuchten einer Scheibe, die geöffnet wurde. Da eine dahinsausende Karosserie. Dort das Funkeln einer Eisenplastik auf einem Rasen. Jeanne erinnerte sich an Emmanuel Aubussons hintergründige Bemerkungen über Rimbauds Gedicht: »Die Ewigkeit. / Es ist das Meer, das mit der Sonne geht.« Buenos Aires, das war »der Winter, der mit der Sonne geht« ...
Sie erreichten die Avenida Corrientes, eine lange Verkehrsader, die von dunklen, geradlinigen Gebäuden gesäumt wurde. Die Kontraste waren dort so hart, so kräftig, dass alles in Schwarz-Weiß gemalt schien. Jeanne hatte richtig gelegen: Ein Team hatte tatsächlich Bereitschaftsdienst. Das Archiv befand sich in einem fensterlosen Raum, der von Leuchtstoffröhren erhellt wurde. Auf schmalen Thekentischen standen Computer.
Nach wenigen Klicks befand sich Jeanne im elektronischen Archiv der Zeitung. Féraud stand hinter ihr, still, aufmerksam. Sie fragte sich, ob er gut genug
Weitere Kostenlose Bücher