Im Wald der stummen Schreie
Spanisch sprach, um die Texte zu verstehen. Sie begann die Recherche mit Admiral Alfonso Palin. Und fand nicht viel über ihn.
Der Offizier hatte hohe Posten in der berühmten Escuela de Mecánica de la Armada (ESMA) bekleidet, dem größten Haft-, Folter- und Vernichtungszentrum des »schmutzigen Krieges«. Anschließend führte er die Aufsicht über andere Geheimgefängnisse, die mitten in Buenos Aires eingerichtet worden waren: Automotores Orletti, El Banco, El Olimpo ... In dem Artikel hieß es, Palin habe angeordnet, in den Anstalten Musik zu spielen, um die Schreie der Gefangenen zu übertönen. Im Jahr 1980 war er Chef des Informationsamtes geworden. Damals erhielt er seine Befehle direkt von Jorge Rafael Videla. Eigentlich hätte er ganz weit oben auf den Listen der Offiziere stehen müssen, die von den demokratischen Regierungen nach dem Ende der Diktatur angeklagt wurden, aber nach dem Krieg um die Falkland-Inseln im Jahr 1984 war Palin spurlos verschwunden.
Seit jener Zeit war keine Zeile mehr über ihn geschrieben worden. Ganz offensichtlich war der Admiral ins Exil gegangen. Das wunderte Jeanne nicht. Alles deutete darauf hin, dass er sich schon vor langer Zeit in Europa niedergelassen hatte. In Spanien oder in Frankreich.
Die einzige brauchbare Entdeckung war eine Aufnahme, die ihn zusammen mit anderen Offizieren zeigte. Alle Mitglieder der Gruppe wirkten stocksteif in ihren Uniformen. Einige trugen schwarze Brillen und sahen wie Mafiosi aus. Karikaturen ihrer selbst.
Jeanne drehte sich zu Féraud um.
»Welcher ist es?«
Der sichtlich verstörte Psychiater deutete mit dem Zeigefinger auf einen der Abgebildeten. Ganz ähnlich hatte sie sich Palin vorgestellt: ein hochgewachsener, hagerer Mann, spröde wie totes Holz. Schon in den achtziger Jahren hatte er nach hinten gekämmtes, dichtes, graues Haar. Kalte blaue Augen und zwei lange, tiefe Furchen, die sein Gesicht wie Eiszangen einrahmten. Jeanne versuchte ihn sich älter, in Zivilkleidung, in Férauds Praxis vorzustellen. Ziemlich deprimierend, solch einen Patienten zu haben ...
Sie druckte das Bild aus und begann mit einer neuen Recherche. Vinicio Pellegrini. Eine riesige Trefferliste. Das Programm zeigte eine Vielzahl von Artikeln an. Der Oberst schien in sämtliche Prozesse verwickelt gewesen zu sein und von allen Amnestien profitiert zu haben. Unter der gegenwärtigen Regierung, die eine ernsthafte juristische Aufarbeitung der von der Militärjunta begangenen Verbrechen betrieb, war er dann auf die Anklagebank zurückgekehrt. Pellegrini hatte überall seine Finger im Spiel. Bei den niederträchtigen, heimtückischen Machenschaften, aber auch bei spektakulären Aktionen. Obwohl der Mann mittlerweile unter Hausarrest stand, war er in Buenos Aires ein Star.
Jeanne begann zu lesen, erinnerte sich dann aber an Féraud. Als sie sich zu ihm umwandte, las sie in seinen Augen Verwirrung. Das Problem der Sprache, aber auch die politische Geschichte des Landes. Sie selbst war ebenfalls verwirrt. Wenn sie wirklich etwas von diesen Verwicklungen begreifen wollten, mussten sie zunächst ihr Gedächtnis auffrischen. Sich in die letzten dreißig Jahre der Geschichte Argentiniens vertiefen. Diese Militärjunten, die das Grauen ins Extrem gesteigert hatten.
Das Archiv der Zeitung Clarin bot Themenschwerpunkte an, in denen Artikel zu spezifischen Themen zusammengestellt worden waren. Jeanne entschied sich für »Justiz, Diktaturen und Reformen«. Sie öffnete die Serie von Artikeln und übersetzte simultan für ihren Partner.
Die Fakten.
März 1976. General Jorge Rafael Videla, Oberbefehlshaber des Heeres, stürzt Isabel Perón, die letzte Gattin von Juan Domingo Perón, die damals Präsidentin der Republik war. Von da an lösen sich mehrere Generäle als Machthaber ab. Videla regiert von 1976 bis 1981, gefolgt von Roberto Viola, der nur einige Monate amtiert. Von 1981 bis 1982 ist Leopoldo Galtieri Chef der Junta; er provoziert den Falkland-Krieg und muss nach der Niederlage zurücktreten. Sein Nachfolger Reynaldo Bignone muss seinerseits 1983 einer demokratischen Regierung Platz machen.
Sieben Jahre lang also herrscht ein Schreckensregime. Das Ziel der Generäle ist klar: endgültig mit allen subversiven Elementen aufräumen. Zu diesem Zweck tötete man die Leute in Massen – nicht nur die Verdächtigen, sondern auch die Menschen in ihrem Umfeld. Von General Ibérico Manuel Saint Jean, damals Gouverneur, stammt der berühmte Satz: »Erst werden wir
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