Im Wald der stummen Schreie
ausfindig. Was die anderen anlangt, sieh zu, wie du zurechtkommst.«
Jeanne legte auf. Sie war es nicht gewohnt, Telefonüberwachungen anzuordnen. Eine extrem aufwendige Maßnahme. Festnetzbetreiber mussten dazu gebracht werden, Umleitungen zu schalten. Man musste sich mit Mobilfunkanbietern verständigen. Und Jeanne wollte noch mehr: Mikrofone in den Büros, Wanzen in Privatwohnungen. Sie würde den SIAT (den interministeriellen technischen Hilfsdienst) einschalten. Eine Handvoll Männer, die die Wanzen diskret installierten. Polizisten transkribierten dann die interessanten Passagen der Aufzeichnungen und legten sie dem Richter in Form von Protokollen vor.
Und dieser ganze Aufwand mündete oft in einer Sackgasse. Oder aber die Ergebnisse der Maßnahme durften gerichtlich nicht verwertet werden, weil sie durch einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Privatsphäre erlangt worden waren. Das war die Standardargumentation der Anwälte der Beklagten. Es ließ sich leicht nachweisen, dass mit einem in einer Wohnung installierten Mikrofon nicht nur ein oder zwei verdächtige Gespräche abgehört worden waren, sondern das Privatleben des Betroffenen umfassend ausgeforscht wurde. Daher war die vom Ermittlungsrichter angeordnete Maßnahme mit einem Mal rechts widrig. Er hatte seine Befugnisse überschritten, und damit war der Fall erledigt. Jeanne wollte dieses Risiko eingehen. Jedenfalls wusste sie nicht, wie sie anders vorgehen sollte.
Während sie auf Bretzels Rückruf wartete, wählte sie sich ins Internet ein und recherchierte Adressen und Telefonnummern der Personen, die sie abhören lassen wollte. Berufliche und private. Nebenbei überprüfte sie ein weiteres Detail. Ein Detail, das sie von Anfang an im Kopf hatte. Sie schrieb ihre E-Mails und vertiefte sich erneut in die Akte.
Eine halbe Stunde später läutete ihr Telefon. Das stationäre. 19.30 Uhr. Ein Klingeln. Eine Pause von einer Minute. Dann ein weiteres Klingeln. Jeanne hob ab: Es war tatsächlich Bretzel. Sie hatten diesen Code verabredet, um sich gegen lästige Anrufer zu schützen. Die Journalisten hatten es sich angewöhnt, Richter und Staatsanwälte nach 19.00 Uhr anzurufen, um sie direkt und nicht ihre Mitarbeiter an die Strippe zu bekommen.
»Heiße Sache«, sagte Bretzel. »Bin dabei.«
Seine Stimme bebte vor Aufregung.
»Ich komme Montag vorbei, um die richterlichen Anordnungen abzuholen. Heute Abend beginne ich schon mal mit der Überwachung der Handys und der Festnetzanschlüsse. Morgen, Samstag, werden wir die Büros verwanzen. Wir werden ungestört sein. Ich schicke auch Leute nach Pau, um die Räumlichkeiten der Firmen zu verwanzen.«
Jeanne lief ein Schauer über den Rücken. Dieses »Anwerfen der Kriegsmaschinerie« erzeugte auch in ihr einen Nervenkitzel. Und die Worte Bretzels bestätigten das, was sie bereits wusste: Dieser Mann hatte keine Angst. Er dachte weder an seine Karriere noch an seine Rente. Der Typ stand auf ihrer Seite.
»Aber etwas kann nicht stimmen. Der letzte Name auf deiner Liste, Antoine Féraud. Was hat er mit dieser Geschichte zu tun?«
Jeanne hatte diese Frage erwartet.
»Mach dir keine Gedanken. Ich kümmere mich darum.«
»Ist er Psychoanalytiker oder Psychiater?«
»Beides.«
»Hast du die Ärztekammer informiert?«
»Ich sag dir doch: Ich kümmere mich darum.«
»Verletzung des ärztlichen Berufsgeheimnisses. Du fährst glatt gegen die Wand, meine Gute.«
»Das ist mein Fall, okay? Keine Transkriptionen bei dieser Überwachung! Du schickst mir jeden Abend eine Kopie der rohen Daten auf einer CD. Das Original versiegelst du. Okay?«
»Was ist denn das für ein Kuddelmuddel?«
»Vertraust du mir oder nicht?«
»Wir werden seine Praxis morgen Nachmittag verwanzen.«
Als Jeanne auflegte, hatte sie einen trockenen Mund. Sie hatte soeben den schlimmsten denkbaren Verstoß gegen die Strafprozessordnung begangen. Eine Todsünde für einen Richter.
Sie hatte den Psychoanalytiker von Thomas auf die Liste der abzuhörenden Personen gesetzt.
Sie kannte seinen Namen.
Sie hatte die Anschrift seiner Praxis im Telefonbuch gefunden.
Sie würde die Behandlungssitzungen von Thomas belauschen und erfahren, was in ihm vorging.
8
Sechs Tage waren vergangen. Nichts war so gelaufen wie erwartet. Am Samstag, den 31. Mai, hatte Bretzel bei Orange und France Télécom die richterlichen Anordnungen von Telefonüberwachungen vorgelegt. Die Leute vom SIAT hatten ihrerseits Wanzen im Büro von Bernard Gimenez in
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