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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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der Parteizentrale der PRL installiert – der Politiker hatte 2007 seinen Posten im Verteidigungsministerium aufgegeben und war nun wieder Schatzmeister seiner Partei. Auch in den Büros des Generalsekretärs Jean-Pierre Grissan und des Generaldirektors der Firma RAS, Simon Maturi, hatten sie Abhörvorrichtungen installiert. Für die Telefonüberwachung der Firmen EDS und Noron hatte Hatzel schon Freitagabend Männer nach Pau entsandt. Gemäß Paragraph 18 Absatz 4 des Strafgesetzbuches ist ein Ermittlungsrichter befugt, Polizeibeamte an jeden beliebigen Ort in Frankreich zu entsenden, wenn dies der »Aufdeckung der Wahrheit« förderlich ist. Die Büros des Noron-Chefs Jean-Louis Demmard und des Geschäftsführers von EDS, Patrick Laiche, waren am Wochenende verwanzt worden. Man hatte die Festnetzleitungen umgeleitet und die Handys mit einem Server verbunden.
    Am Dienstag, den 3. Juni, hatte Jeanne die ersten Transkriptionen erhalten. Einige Blätter. Dabei war nicht das Geringste herausgekommen. Kein verdächtiges Gespräch. Keine Anspielungen auf eine mögliche Einflussnahme. Noch weniger auf Geldüberweisungen oder -übergaben. Kein kryptisches Vokabular, das auf die Verwendung eines Codes hindeutete. Diese Verdächtigen kommunizierten auf eine andere Weise, dessen war sich Jeanne sicher.
    Am gleichen Tag hatte sie sich an die Informatik-Abteilung gewandt, um Kopien der E-Mails der Verdächtigen zu erhalten. Ebenfalls ohne Ergebnis. RAS machte seinem Namen alle Ehre. Dennoch spürte Jeanne instinktiv, dass die Machenschaften weitergingen. Vielleicht waren diese Männer über die Telefonüberwachung informiert worden. Bretzel war vertrauenswürdig, ebenso wie die Männer des SIAT. Aber es gab immer undichte Stellen. Die Justiz ist die Verwaltungsinstanz mit den meisten undichten Stellen.
    Tatsächlich interessierte sich Jeanne Korowa seit Beginn ihrer großangelegten Ermittlungsarbeiten für einen anderen Aspekt der Abhörmaßnahmen. Die Aufzeichnungen aus der Praxis von Antoine Féraud, dem Psychoanalytiker von Thomas, die sie seit Montagabend erhielt. Zwei CDs – ein versiegeltes Exemplar und eine Kopie zum Anhören –, in einem Kraftpapierumschlag, der ihren Namen trug und jeden Abend unter ihrer Wohnungstür durchgeschoben wurde. Sämtliche Behandlungssitzungen eines Tages wurden aufgezeichnet.
    In dieser Hinsicht war die Ausbeute sehr reichhaltig gewesen.
    Genaugenommen, allzu reichhaltig.
    Jeanne kannte die Tage und die Uhrzeiten der wöchentlichen Sitzungen von Thomas. Montag, 14.00 Uhr. Mittwoch, 15.30 Uhr. Gleich am ersten Abend hatte sie die CD vom Montag auf ihrem Rechner abgespielt, bis sie die Stimme von Thomas wiedererkannte. Da hatte sie die Informationen erhalten, nach denen sie suchte.
    Thomas hatte nicht eine, sondern zwei Geliebte. Er sprach von Heirat und Kindern, konnte sich aber noch nicht zwischen den beiden Frauen entscheiden.
    Er meinte, er sei jetzt in dem Alter, um sich zu binden, um etwas aufzubauen.
    Aber Jeanne gehörte nicht zum Casting. Nicht ein Mal hatte Thomas sie erwähnt. Sie war nicht Teil der Gegenwart und erst recht nicht der Zukunft. Sie war nur eine der Frauen, an denen er seinen Trieb befriedigt, seinen Eroberungsdurst gestillt hatte – seine »Eier geleert« hatte, wie die Männer feinfühlig zu sagen pflegten –, um jetzt als satter, ruhiger Krieger in den Stand der Ehe zu treten. Was die beiden Heiratskandidatinnen anlangte, so waren beide noch keine fünfundzwanzig Jahre alt.
    Jeanne hatte diese Passage zehn Mal abgespielt, weinend, tobend, fluchend. Wie hatte sie nur so viel Zeit, so viel Hoffnung in diesen Mistkerl stecken können? In derselben Nacht hatte sie seine Briefe zerrissen, seine Fotos weggeworfen, seine E-Mails gelöscht und seine Nummer aus dem Speicher ihres Handys entfernt. Sie hätte nicht sagen können, ob es ihr danach besser ging, aber wenigstens hatte sie jetzt reinen Tisch gemacht.
    Dennoch hatte sie den Mittwochabend in fiebriger Anspannung und mit einer vagen Hoffnung erwartet. Diese verdammte Hoffnung, die den Frauen das Grab schaufelt. Vielleicht würde er sie ja bei der nächsten Sitzung erwähnen! Von wegen. Die neue CD bestätigte die Diagnose. Zwei junge Frauen, Heirat mit einer von beiden. Und noch immer kein Wort über sie. Die Alte.
    Da waren Jeanne die ersten Anzeichen einer Entwicklung aufgefallen. Sie hatte bereits am Montagabend begonnen ... In gewisser Weise war die erste Aufzeichnung von einer heilsamen Brutalität gewesen.

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