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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Eine Katharsis. Schmerzhaft, aber befreiend. Sie musste ihren Weg gehen.
    Jetzt zeichnete sich ein anderer Prozess ab. Unter dem Einfluss einer krankhaften Neugierde hatte sich Jeanne schon am Dienstag dazu hinreißen lassen, auf ihrem Rechner die anderen Sitzungen anzuhören, während sie in ihrem Wohnzimmer stehend ihren Reis aß. Die Stimmen. Die Geheimnisse der Patienten.
    Dabei hatte eine Stelle sie besonders nachhaltig beeindruckt. Ein Priester, der etwa fünfzig Jahre alt sein mochte:
    »Mein Glaube schwindet, Doktor. Ich kann nur mit Ihnen darüber sprechen. Die Stärke meiner Überzeugungen lässt nach ... Als ob sie sich verzehrte. Eine Kerze, die brennt, aber immer an einem bestimmten Punkt erlischt ...«
    »An welchem Punkt?«
    »Bis zum Tod Christi glaube ich alles. Aber danach geht nichts mehr. Die späteren Wunder kann ich nicht glauben. Die Auferstehung. Die Rückkehr Jesu zu den Aposteln. Unmöglich.«
    »Ihr Glaube endet also bei der Kreuzigung?«
    »Ja, bei der Kreuzigung.«
    Schweigen.
    »Haben Sie viele Geschwister?«
    »Sieben. Im Elsass. Wir haben oft darüber gesprochen: Ich habe eine glückliche Kindheit gehabt.«
    »Aber Ihr Vater hat das Neugeborene systematisch bevorzugt.«
    »Doktor, das ist nie ein Problem für mich gewesen. Ich war der Älteste. Ich hatte Verständnis für diese Neigung meines Vaters. Im Übrigen kam mein Glaube zu früh. Ein Glaube, der mich erfüllt hat und mich dazu brachte, sehr früh von zu Hause fortzugehen.«
    Antoine Féraud schwieg. Der Priester schnalzte mit den Lippen. Bestimmt hatte er einen trockenen Mund. Jeanne kannte dieses Gefühl gut. Da man mit dem Kopf auf dem Kissen liegend sprechen musste, hatte man keinen Speichel mehr im Mund und zu viel Blut im Kopf.
    »Ein Glaube, der mit der Kreuzigung Christi endet«, wiederholte Féraud.
    »Und?«
    »Sie erinnern sich doch bestimmt an die letzten Worte Jesu, oder?«
    Erneutes Schweigen. Dann die Stimme des Priesters, der, geschlagen, äußerte:
    »Vater, warum hast du mich verlassen?«
    Jeanne lächelte, noch immer in ihrer kleinen Reisschüssel herumstochernd. Gut gemacht, Féraud ... Sie stellte sich die Praxisräume vor. Der lackierte Parkettboden. Ein marokkanischer Kelim. Goldbraune Farbtöne. Bücher auf Regalen. Ein Sessel in der Nähe der Couch, mit dem Rücken zum Fenster. Ein schräg stehender Schreibtisch, noch etwas weiter weg.
    Nicht alle Sitzungen waren interessant. Aber sie waren immer abwechslungsreich. Es gab diejenigen, die es eilig hatten und die Stunde vorzeitig beendeten. Die Redseligen, die ununterbrochen laberten. Die Schweigsamen, die pro Minute nur ein oder zwei Worte äußerten. Die Rationalen, die in einem fort analysierten und ihre Erinnerungen und Phantasien einordneten. Die Dichter, die sich von Wörtern und Emotionen einlullen ließen. Die Nostalgiker, die sich in wehmütigem Tonfall über ihre Vergangenheit ausließen. Die Querköpfe, die nur ungern kamen und den Eindruck vermittelten, jede Sitzung sei die letzte ...
    Sie hörte zu. Und hörte noch immer zu.
    »Ich onaniere pausenlos, wenn ich an sie denke«, sagte eine tiefe Stimme. »Dabei habe ich ihr letztes Jahr den Laufpass gegeben. Und ich habe sie seit drei Jahren nicht mehr angerührt! Woher kommt dieses plötzliche Begehren? Woher diese Obsession, obwohl ich nichts mehr von ihr hören wollte?«
    »Nicht das Onanieren an sich erregt Sie«, erwiderte Féraud. »Ihr Schuldgefühl bereitet Ihnen Lust. Beim Onanieren streicheln Sie Ihr schlechtes Gewissen und nicht den Körper dieser Frau. Ihr Vergehen erregt Sie. Sie fühlen sich schuldig, und das gefällt Ihnen. Das törnt Sie an.«
    Jeanne amüsierte sich prächtig. Sie kannte dieses psychotherapeutische Gerede in- und auswendig. Zwei Jahre lang hatte sie solche rätselhaften Kommentare über sich ergehen lassen, die jedoch manchmal ins Schwarze trafen. Jedenfalls zwangen sie einen dazu, nachzudenken, sich seinen dunklen Seiten zu stellen, um dort eine neue Wahrheit zu entdecken.
    Am meisten faszinierte sie die Stimme von Antoine Féraud. Nicht sehr tief, aber männlich und rau. Er hatte auch eine besondere Aussprache. Eine feierliche Langsamkeit, die jedem Wort einen Rhythmus, etwas Feierliches verlieh. Und vor allem besaß sie Wohlklang. Seine Stimme war sanft, betörend, wie ein Balsam für die Seele ...
    Auf drei CDs – Montag, Dienstag, Mittwoch – hatte Jeanne bereits die wohltuende Wirkung dieser Stimme gespürt. Sie hatte ein Ritual entwickelt. Jeden Abend

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