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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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tauchte sie in die Dunkelheit ein, machte es sich auf ihrem Sofa bequem und legte ein Headset an. Von der Finsternis umfangen, gab sie sich diesem verführerischen Wohlklang hin. Die Stimme schmeichelte sich in sie ein, öffnete ihr das Herz und weitete es.
    Am Vorabend hatte Jeanne sogar gespürt, wie etwas in ihr aufgebrochen war. Eine verstörende Anwandlung ... Sie hatte die Hand in ihre Boxershorts gleiten lassen und sich gestreichelt, während die CD mit den aufgezeichneten Sitzungen ablief. Schon bedauerte sie es, alles zu beschmutzen. Diese Stimme, die ihr ein reines Gefühl einflößte, zu beschmutzen ...
    Am Donnerstag, den 5. Juni, blieb sie morgens ewig unter der Dusche und beschimpfte sich mit leiser Stimme. Allein in der dunklen Wohnung onanieren, während man der Stimme eines Psychotherapeuten lauschte. Wirklich ergreifend ...
    Sie trocknete sich ab, kämmte sich. Die Dunstschicht auf dem Spiegel löste sich auf. Sie hatte es nicht eilig, ihr Gesicht zu sehen. Ein Ausdruck der Anspannung. Fahler Teint. Trotz allem war sie attraktiv. Die von Sommersprossen überzogene weiße Haut. Hohe Wangenknochen. Und diese grünen Augen, die an guten Tagen wie Achate funkelten. Einmal hatte Thomas sie mit Absinth verglichen, jenem Getränk, das im 19. Jahrhundert groß in Mode war und auch »die grüne Fee« genannt wurde. Über dem Glas mit dem entzündeten hellgrünen Alkohol ließ man ein Stück Zucker schmelzen. Obwohl Thomas nicht gerade poetisch veranlagt war, waren ihm diese Ähnlichkeiten aufgefallen. Das Grün für die Augen. Die Flamme für den Rotton. Was die Trunkenheit anlangt ... An jenem Abend hatte er geflüstert: »Du bist meine grüne Fee ...« Die Metapher hatte im Bett geendet. Jeanne war sich sicher, dass er das alles aus einem Magazin hatte, dennoch erinnerte sie sich mit Vergnügen daran.
    Sie kam mit feuchten Haaren aus dem Bad. Trank den Kaffee, den sie sich zubereitet hatte. Knabberte an einer Scheibe Vollkornbrot. Schluckte ihre Tagesdosis Trevilor 0,75 mg. Öffnete ihren Kleiderschrank und entschied mit einem raschen Blick, was sie anziehen würde. So wie man eine Uniform auswählt.
    Weiße Jeans.
    Weiße Bluse mit schwarzen Motiven.
    Leinenjacke.
    Und Schuhe von Jimmy Choo, spitz wie Dolche.
    Sie nahm ihre Schlüssel, ihre Handtasche und ihre Aktentasche und schlug die Tür mit Gewalt zu.
    An die Arbeit.
    Akten. Vernehmungen. Gegenüberstellungen.
    Schluss mit dem ganzen Blödsinn von Stimmen ohne Gesicht, Balsam für die Seele, nächtlichen Liebkosungen.

 
    9
    Als sie im Gerichtsgebäude das Stockwerk betrat, auf dem ihr Büro lag, spürte sie gleich, dass etwas nicht stimmte. Zwei Polizisten standen mit dem Rücken zu ihr im Flur. Athletische Schultern. Rote Armbinden. Eine deutlich sichtbare Automatik im Gürtel. Etwas Ernstes.
    Einer von ihnen drehte sich um. Sie erkannte das schlecht rasierte, leicht pausbäckige Gesicht von Kommissar Patrick Reischenbach, einem Teamleiter bei der Mordkommission. Seine Haare glänzten von Gel. Hastig versuchte sie ihr eigenes, noch feuchtes Haar zu zerzausen. Vergeblich.
    »Hallo«, sagte sie lächelnd. »Was machen Sie da?«
    »Wir holen Taine ab.«
    Jeanne wollte schon nachfragen, als Taine, frisch rasiert, aus seinem Büro trat, sein Sakko überstreifend, in der anderen Hand seine Aktentasche. Seine Assistentin folgte ihm auf den Fuß.
    »Was ist los?«, fragte Jeanne.
    »Es gibt ein neues Opfer.« Taine bewegte die Schultern, bis das Sakko richtig saß. »Ein weiterer Mord. Der Kannibale. Ich fahre hin. Es ist im Departement Seine-Saint-Denis. Die Staatsanwaltschaft Bobigny hat den Fall an uns abgegeben.«
    Jeanne betrachtete die Gruppe. Der unergründliche Reischenbach. Der zweite Polizist, den sie nicht kannte, genauso verschlossen. Taine wie gewöhnlich mit eisiger Richtermiene. Seine Assistentin, hinter ihm, mit dem gleichen Gesichtsausdruck. Eine sehr ernste Sache.
    »Okay«, sagte Taine, der Jeannes Gedanken las. »Willst du mitkommen?«
    »Darf ich?«
    »Kein Problem.« Er blickte auf seine Uhr. »Es ist in Stains. Wir machen uns den Spaß und sind zum Mittagessen wieder zurück.«
    Jeanne eilte in ihr Büro. Warf einen Blick auf ihre Akten. Erteilte Claire Anweisungen und lief zum Aufzug, wo die anderen auf sie warteten.
    Seit dem Morgengrauen hatten sich die Wolken zusammengebraut. Jetzt regnete es. Ein schöner sommerlicher Guss. Warm. Grau. Befreiend. Die Tropfen krachten wie China-Böller auf den Gehsteig. Der Himmel glich einem

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