Im Wald der stummen Schreie
beabsichtigt war. »RAS« bedeutete in der Sprache der Militärs » Rien à signaler « – keine besonderen Vorkommnisse.
Alle kannten das System. Abgeordnete verlangten Geld als Gegenleistung für die Vergabe öffentlicher Aufträge an spezialisierte Unternehmen. Diese sicherten sich diese Aufträge, indem sie über Scheinfirmen das Geld in die Kasse der politischen Partei des Abgeordneten transferierten. Oder sie sorgten dafür, dass die Gelder über ausländische Konten oder Gesellschaften in Steueroasen direkt in die Taschen der Abgeordneten flossen. Mit solchen Mitteln finanzierten die politischen Parteien ihre Wahlkämpfe. In Frankreich waren diese Machenschaften in den Neunzigern durch den Fall Urba aufgedeckt worden: den ersten in einer langen Reihe, die alle – linke wie rechte – Parteien betroffen hatte.
In dem anonymen Schreiben hieß es weiter, die Firma RAS stehe einer neuen politischen Partei der Mitte nahe, der PRL (der Republikanischen Partei für die Freiheit). Jeanne hatte von dieser Partei gehört, vor allem bei den Kommunalwahlen im März letzten Jahres. Die Frage lautete nun: Welche Gefälligkeit hatte EDS Technical Services mit diesen Zahlungen beglichen? Die Antwort war einfach: Die Waffenlieferung nach Osttimor war durch Bernard Gimenez, der 2006 als Sicherheitsberater für das Verteidigungsministerium gearbeitet hatte, ermöglicht worden. Und Gimenez war zugleich einer der Gründer der PRL ...
Jeanne legte ihren Textmarker hin. Du salzt. Du pfefferst. Du servierst uns den Braten schön heiß. Reinhardt hatte Recht: Dies könnte sich als ein echter politischer Skandal entpuppen. Sofern man ins Schwarze traf und die Ermittlungen diskret durchführte. Jeanne hatte die Abhöraffäre am Gericht von Nanterre im Jahr 2004 hautnah miterlebt. Damals waren die Büros der Richter, die Alain Juppé verurteilt hatten, durchsucht, ihre Rechner durchstöbert und ihre Telefone abgehört worden – ganz zu schweigen von dem Druck, den Drohungen und anonymen Briefen ...
Aber das Wichtigste fehlte hier. Die Beweise. Wenn Jeanne sich dieser Sache annehmen würde, musste sie beweisen, dass Gimenez zum Zeitpunkt der Ausfuhr der Waffen im Verteidigungsministerium interveniert hatte. Sie musste beweisen, dass für die Rechnungen der RAS keine Gegenleistungen erbracht worden waren. Sie musste den Weg des Geldes von der Firmenkasse in die Parteikasse der PRL akribisch genau nachverfolgen. Und zweifellos auch den Fluss der Gelder in die Taschen von Bernard Gimenez. Das bedeutete, sich durch ein Gewirr von Firmen, Überweisungen auf schweizerische Nummernkonten, Geldtransfers in Steueroasen hindurchzuwühlen. Kurzum: eine gigantische Arbeit, die Jahre dauern würde, ohne dass der Erfolg garantiert war.
Jeanne war bereit, sich dahinterzuklemmen. Auch wenn sie wenig Hoffnung hatte. In Frankreich wurden solche Fälle nie erfolgreich abgeschlossen. Seit ihrer Studienzeit verfolgte sie die berühmten »Skandale der Republik«: gefälschte Rechnungen, manipulierte Märkte, schwarze Kassen, Schutzgelderpressung, verdeckte Provisionen, fiktive Arbeitsverträge ... Kein einziges Mal hatte ein Richter gegen die Politiker gewonnen. Kein einziges Mal. Ja, es kam zu einem Skandal, der eine Zeitlang in den Medien hohe Wellen schlug. Dann geriet er in Vergessenheit. Wenn es – im günstigsten Fall – Jahre später zum Prozess kam, führten Mauscheleien zwischen Justiz und Politik dazu, dass beide ungeschoren davonkamen. Wie sang Alain Souchon: Les cadors on les retrouve aux belles places, nickel ... 1 Sie hob den Hörer ab und rief bei der achten Hauptabteilung der Kripo an, die für Urkundenfälschung zuständig ist. Sie kannte dort Kommissar Éric Hatzel, der auch »Bretzel« oder »Facturator« genannt wurde, weil er in der Lage war, Buchführungen zu entschlüsseln, die sonst niemand durchschaute.
»Bretzel? Hier Korowa.«
»Wie geht's dir, Korowa?«
»Nicht schlecht. Ich bin an einer Sache dran. Ich faxe dir den vorläufigen Ermittlungsantrag, und du sagst mir, was du davon hältst.«
»Jeanne, ich schwöre dir, wir sind total überlastet ...«
»Lies erst mal.«
»Worum geht's?«
»Nicht am Telefon. Lies und ruf mich zurück.«
»Womit willst du anfangen?«
»Telefonüberwachungen. Eine ganze Latte.«
»Das auch noch! Ich hab kein Team frei und ...«
»Lies das Fax. Und dann schau in deine Mails. Du bekommst von mir die Liste der Typen, die du abhören sollst. Ich mache ihre Adressen und Telefonnummern
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