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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Cessna: Das Flugzeug war am 15. Mai 2006 um 22.00 Uhr auf dem Dubai International Airport in den Vereinigten Arabischen Emiraten gelandet, um dort aufzutanken. Welches Ziel hatte es dann angesteuert? Es dauerte zwei weitere Monate, um diese Frage mit Sicherheit zu klären. Das Flugzeug mit dem Kennzeichen N543VP hatte am folgenden Tag Osttimor erreicht. Der unabhängige Staat liegt im Ostteil der zum Sunda-Archipel gehörenden Insel Timor, zwischen Indonesien und Australien. Das Flugzeug war nicht auf dem Flughafen der Hauptstadt Dili, sondern auf dem im Westen gelegenen zweiten Flughafen der Insel nahe der Stadt Baucau gelandet. Was befand sich in den Frachträumen des Flugzeugs?
    Der Richter hatte es dabei bewenden lassen. Keine Vernehmungen, keine Durchsuchungen und keine Telefonüberwachung. Jeanne ahnte den Grund. Im Schnitt bearbeiteten Richter hundertfünfzig Fälle gleichzeitig. Erst nach sechs Monaten hatte Vittali Neues über das Flugzeug erfahren. In der Zwischenzeit hatte sich ein Berg von Akten auf seinem Schreibtisch angesammelt. Und da es weder Anzeigen noch konkrete Verdachtsmomente gab, hatte der Richter auf weitere Nachforschungen verzichtet. »Eine Akte jagt die nächste«, wie die Richter zu sagen pflegen.
    Ende des ersten Aktes.
    Der zweite hatte ein Jahr später, Ende Februar 2008, begonnen. Bei der Staatsanwaltschaft des Departements Hauts-de-Seine war ein anonymer Bericht eingegangen. Daraufhin beantragte diese die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, dem die erste Akte aus Pau und Unterlagen der Steuerbehörden des Departements beilagen – ein Hinweis darauf, dass der anonyme Briefschreiber nicht nur die Tricks von EDS Technical Services kannte, sondern auch über die Mittel verfügte, um sich amtliche Schriftstücke zu beschaffen.
    Als Einleitung enthüllte der anonyme Briefschreiber, was die Cessna geladen hatte. Maschinengewehre. Raketenwerfer. Granaten. Sturmgewehre. Über die letztgenannten Waffen machte das Dokument genauere Angaben: halbautomatische Waffen des Nato-Modells Scorpio 56 x 45 mm mit Visierhilfe und Laser-Zielmarkierer. Ein Produkt, das nur von EDS Technical Services hergestellt wurde.
    Der anonyme Briefschreiber lieferte noch eine weitere Information. Die Scorpio war die Waffe, die man bei den Rebellen fand, welche am 11. Februar 2008 in Dili einen Mordanschlag auf den Präsidenten José Ramos-Horta verübt hatten. Der schwer verletzte Staatschef wurde in ein Krankenhaus in der australischen Stadt Darwin ausgeflogen und war mittlerweile wieder genesen.
    Jeanne überlegte. Die Sache war heiß, sehr heiß sogar. Frankreich, verwickelt in einen Mordanschlag auf einen Friedensnobelpreisträger und Präsidenten einer strauchelnden Demokratie. Das würde für erhebliches Aufsehen sorgen.
    Dennoch war sich Jeanne nicht sicher, ob überhaupt eine Straftat vorlag. Gegen Osttimor war kein Embargo verhängt worden. Daher war es auch nicht verboten, Waffen dorthin zu liefern. Das Problem war die Identität der Empfänger: Rebellen. Aber es konnte auch sein, dass die Waffen in falsche Hände geraten waren – dass sie ursprünglich an die reguläre Armee oder die Sicherheitskräfte verkauft worden waren, die hauptsächlich aus Australiern bestanden. Das würden jedenfalls die Führungskräfte von EDS behaupten. Jeanne malte sich ihre Vernehmungen aus. Von den besten Anwälten beratene und von Politikern geschützte Manager, die einem irgendeine Geschichte auftischen konnten. Realistisch betrachtet, blieb ihr nur die Möglichkeit, über ein internationales Rechtshilfeersuchen zu erreichen, dass ein Richter in Timor sich mit dem Fall befasste. Ein Schritt, der mehrere Jahre in Anspruch nehmen konnte.
    Außerdem lag der Fall noch komplizierter.
    Das dritte Dokument in der Akte.
    Die Unterlagen der Steuerbehörden verliehen dem Ganzen noch eine weitere Dimension. Urkundenfälschung und politische Korruption. In dem anonymen Bericht hieß es, die Gesellschaft EDS Technical Services habe parallel zu dieser Waffenlieferung fast eine Million Euro an die Beratungsfirma RAS gezahlt. Und das Dokument der Steuerbehörden bestätigte, dass RAS mehrere Rechnungen an EDS Technical Services ausgestellt hatte. Dieses Unternehmen mit Sitz in Levallois-Perret im Departement Hauts-de-Seine stand im Verdacht, für verschiedene Gesellschaften, die sich um öffentliche Aufträge bemühten, gefälschte Rechnungen auszustellen. Jeanne fiel der ironische Beiklang des Firmennamens auf, der zweifellos

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