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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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die Zubereitung seines Festmahls entzündet hat, wieso braucht er dann noch Fackeln?«
    »Für seine Schreibarbeit.«
    Langleber griff nach einem Scheinwerfer und richtete ihn auf eine der Wände. Sie war überzogen von Hieroglyphen. Senkrechte Striche, die von Zeile zu Zeile komplizierter wurden. Eine Reihe von Bäumen, deren Zweige niemals gleich waren. Man konnte darin auch stilisierte Menschen erkennen. Oder die Zeichen eines Ur-Alphabets.
    Zurücktretend bemerkte Jeanne eine letzte Ähnlichkeit, die mit den Aktivitäten der Laboratoires Pavois selbst zusammenhing. Diese krummen Striche konnten auch Chromosomenpaare darstellen, wie sie in Karyogrammen abgebildet werden.
    »Der Erkennungsdienst wird Ihnen Genaueres dazu sagen«, meinte Langleber. »Nach dem, was ich weiß, wurden sie mit einem grauenhaften Gemisch gemalt: Blut, Speichel, Exkremente und Ocker. Rein organisch also.«
    Ocker: Taine hatte bereits im Restaurant davon gesprochen, als er ihr über das erste Opfer berichtete. Nun wollte Jeanne Genaueres über diesen Stoff wissen. Langleber tat die Frage mit einer Handbewegung ab – »Wir erwarten die Ergebnisse weitergehender Untersuchungen«. Abschließend sagte er:
    »Wir begreifen nicht einmal ansatzweise, was dies alles zu bedeuten hat. Ich würde sogar die Vermutung wagen, dass es genau darum geht. Das ist der pharmakón laut René Girard.«
    »Verschon uns mit deinen Weisheiten«, versetzte Taine unwirsch.
    Der Rechtsmediziner lächelte. Sein großes, mächtiges Gesicht mit den hellen Augen strahlte eine besondere Kraft aus.
    »›Die Opferung setzt eine gewisse Unkenntnis voraus. Die Mitglieder einer kultischen Gemeinschaft wissen nicht – und dürfen nicht wissen –, welche Rolle die Gewalt spielt ...‹«
    Taine öffnete den Mund, um Langleber anzufahren, doch Jeanne legte ihm die Hand auf den Arm. Der Mediziner wich bereits zurück, die Hände in den Taschen. Mit seinem Polohemd, seiner verwaschenen Jeans und seinen Mokassins sah er aus, als wolle er gleich auf sein Segelboot zurückzukehren.
    »Salut, meine Lieben. Den Bericht über das erste Opfer bekommt ihr noch heute. Beim zweiten werde ich versuchen, mich zu sputen.«
    Langleber verneigte sich und stapfte Richtung Treppe. Taine spuckte aus:
    »Dummkopf!«
    »René Girard ist ein Anthropologe«, erklärte Jeanne. »Er hat ein sehr bekanntes Buch geschrieben, Das Heilige und die Gewalt .«
    »Ach ja!«, spottete Taine.
    Dann zeigte er auf die Leiche und sagte mit lauter Stimme:
    »Können wir das vielleicht mal einpacken!«
    Männer eilten geschäftig hin und her. Jeanne fuhr fort:
    »Das Buch erklärt, wie in archaischen Gesellschaften die Gewalt innerhalb eines Klans durch Opferung eines Einzelnen reguliert wird. Ein Ventil, das die Abfuhr aggressiver Energien und den Abbau von Spannungen ermöglichte. Das Blutvergießen beruhigte die Gemüter.«
    »Und dieses Pharma-Zeug, was bedeutet das?«
    Die Leiche wurde in eine Plastikhülle gelegt.
    »Das Wort pharmakón bezeichnet im Griechischen einen Stoff, der sowohl Gift als auch Gegengift ist. Laut Girard spielte die Gewalt diese Rolle in archaischen Gesellschaften. Gewalt durch Gewalt heilen ... Wer weiß? Vielleicht will der Mörder unsere Gesellschaft vor dem Chaos retten.«
    »Unsinn. Ein Psychopath hält sich für einen Kannibalen, und wir haben nicht den Hauch einer Spur. So sieht's aus.«
    »Salut. Darf ich Ihnen etwas zeigen?«
    Der Mann, der zu ihnen getreten war, trug einen weißen Overall. Mit einem raschelnden Geräusch streifte er seine Kapuze zurück. Ali Messaoud, Leiter des Erkennungsdienstes. Eine knappe Begrüßung. Man kannte sich.
    Messaoud führte sie zu der Stelle, wo die Leiche gelegen hatte, deren Umrisse jetzt mit Klebeband markiert waren.
    »Sehen sie sich das an!«
    Schwarze Spuren zogen sich an der Silhouette entlang. Jeanne hatte sie bereits entdeckt; sie glaubte, es handele sich um Blutspritzer. Doch wenn man genauer hinsah, erkannte man, dass es sich um Teile von Abdrücken handelte. Gekrümmte, verstümmelte, rätselhafte Formen.
    »Fußabdrücke«, bestätigte Messaoud. »Von nackten Füßen, um genauer zu sein. Ich glaube, dieser Irre zieht sich nackt aus und tanzt um sein Opfer herum.«
    Taine hatte bereits auf dieses Detail hingewiesen. Jeanne stellte sich jetzt einen nackten Mann vor, der sich über sein Opfer beugte, bevor er es verschlang. Ein Menschenfresser.
    »Es gibt nicht nur Fuß-, sondern auch Handabdrücke. Der Mörder geht auf allen vieren.

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