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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Bluterguss breitete sich wie ein riesiger Weinfleck aus. Der Mörder hatte sein Opfer mehrfach mit einem Stein oder einem großen Hammer geschlagen. Blut war aus den zerplatzten Gefäßen ausgetreten und unter der Haut geronnen. Das bedeutete, dass die Frau während dieser Marter noch gelebt hatte. Jeanne fielen zwischen den Haaren auch Blutgerinnsel auf – der Mörder hatte den Schädel zertrümmert. Tropfen von Hirnmasse sprenkelten das zerzauste Haar.
    Jeanne richtete die Taschenlampe auf den Bauchraum. Ein riesiger senkrechter Schnitt vom Brustbein bis zum Becken. An den Seiten Verletzungen, Kratzer, klaffende Wunden. Vielleicht sogar Inschriften. Eine der Brüste fehlte. Die andere hing schlaff herunter. Jeanne vermutete, dass der Mörder seine Zähne in die Wunden geschlagen und Stücke von Muskelfleisch herausgebissen hatte. Jeder Biss hatte am Rand der Wunde Hautfetzen hinterlassen. Der Mörder entfernte die Haut und biss dann ins nackte Fleisch hinein. Er mag die Haut nicht. Er will den Kontakt mit dem zarten, noch warmen Fleisch, er will die Muskelfasern und die harten Knochen spüren ...
    Sie senkte die Taschenlampe noch etwas weiter. Das Geschlechtsteil. Sie vermutete, dass sich der Täter in diesem Bereich in besonders grausamer Weise ausgetobt hatte. Sie hatte Recht. Der Mörder hatte die Scham herausgebissen oder -gerissen. Er hatte die Haut abgeschält, die Organe zerbissen, das Blut eingesaugt und ringsherum ausgespuckt. Jeanne war keine Pathologin, aber sie vermutete, dass er das gesamte Geschlechtsorgan verschlungen hatte. Schamlippen, Klitoris, Eileiter, Gebärmutter ... Alles hatte er gefressen. Diese Symbole der Weiblichkeit in sich aufgenommen.
    Ein Gedanke blitzte in ihr auf. Der Mörder war eine Frau. Eine Gorgo, die sich die Fruchtbarkeit ihres Opfers aneignen wollte. Wie die Papua, die das Herz oder das Gehirn ihrer Feinde verzehren, um sich ihre Fähigkeiten anzueignen. Worte fielen ihr ein. Worte, die man ihr vor der Erstkommunion in der Kirche immer wieder gesagt hatte: »Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm.«
    Jeanne gewahrte ihr fahles Gesicht in einer Pfütze. Himmel, gleich kippe ich um ... Um sich wieder in die Gewalt zu bekommen, gab sie dem Hauptmann die Lampe zurück und wandte sich an Taine.
    »War das erste Opfer auch so zugerichtet?«
    Der Richter antwortete nicht.
    »Hast du die Leiche gesehen oder nicht?«
    »Nur auf Fotos. Als ich eintraf, hatte man sie bereits fortgeschafft.«
    »Aber sah es so ähnlich aus?«
    Der Richter nickte. Eine Stimme näherte sich. Ein stämmiger Mann, dessen dicker Wanst sich unter einem blauen Polohemd von Ralph Lauren spannte, murmelte in ein Diktaphon. Ein Mann um die sechzig mit dunklem Teint und grauem Haar, das in der Mitte gescheitelt war. Hakennase und hellblaue kleine Augen. Sein Blick hatte etwas Lebhaftes und Unbeschwertes, aber auch Aggressives und Merkwürdiges. Diese durchscheinenden Augen wirkten wie ein Fremdkörper in diesem sonnengebräunten Gesicht.
    »Langleber«, flüsterte Taine. »Der Rechtsmediziner. Ich schwör's dir: Wenn der mir wieder seinen intellektuellen Schwachsinn auftischt, dann setzt es was.«
    Der Richter stellte sie einander vor. Mechanisches Händedrücken.
    »Ich glaube zu wissen, wie er vorgegangen ist«, sagte der Mediziner, während er sein Diktaphon in die Gesäßtasche seiner Jeans steckte.
    »Ich höre.«
    Der Mann hob den Kopf und wies auf das Gestänge, an dem die Neonröhren angebracht waren.
    »Er hängt das Mädchen dort oben auf, mit dem Kopf nach unten. Er zerschmettert ihr das Gesicht und schneidet ihr die Kehle durch. So wie man Schweine auf Bauernhöfen absticht. Er benutzt ein sehr scharfes Messer. Die Wundränder sind glatt. Er schneidet von links nach rechts. Der ›Rattenschwanz‹, also das Ende der Wunde, ist eindeutig. Der Mistkerl ist Rechtshänder. Und ich kann Ihnen sagen, dass seine Hand nicht zittert. Ich konnte bereits Verletzungen feststellen, die bis zur Wirbelsäule gehen, mit Durchtrennung der Luft- und der Speiseröhre.«
    Als sie klein war, hatte Jeanne während der Sommerferien zwei Monate im Perche verbracht – einer Landschaft im Westen des Pariser Beckens. Mehrfach hatte sie solche barbarischen Schlachtungen miterlebt. Ein echtes Ritual. Das Schwein wurde getötet ...
    »Es gibt nicht genug Blut«, bemerkte sie.
    Der Gerichtsmediziner richtete seine methylenblauen Augen auf sie. Anerkennend meinte er:
    »Genau. Ich glaube, dass

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