Im Wald der stummen Schreie
gesprochen. Nichts und niemand schien ihn erschüttern zu können. Der Mann war wirklich ein Eisklotz.
Das musste Taine genauso überraschen wie Jeanne.
»Der Mord an Nelly Barjac scheint Sie nicht besonders zu berühren. Sie wirken nicht einmal überrascht über die unglaublichen Umstände ihres Todes.«
»Ich nehme die Welt so, wie sie ist. Wenn ich in den Zeitungen von der Welle der Gewalt in unserer Gesellschaft lese, dann muss ich mich damit abfinden, dass diese Gewalt auch an meiner Tür anklopfen kann.«
Der Richter öffnete gereizt die Arme.
»Haben Sie denn kein Mitgefühl? Erschüttern Sie die Umstände des Todes von Nelly denn gar nicht? Die Qualen und die Verstümmelungen, die ihr zugefügt wurden?«
»Nellys Leib ist gestorben, aber ihre Seele setzt ihre Reise fort.«
»Glauben Sie etwa an die Reinkarnation?«, fragte Jeanne verblüfft.
»Ich bin Buddhist. Ich glaube an den Kreislauf der Wiedergeburten und die Unvergänglichkeit der Seele. Was meine Gefühle anlangt, möchte ich Ihnen gleich sagen, dass Nelly meine Geliebte war. Seit etwa einem Jahr hatten wir eine Beziehung. Aber meine Gefühle in diesem Moment gehen nur mich etwas an. Das werden Sie doch verstehen.«
Schweigen. Jeanne, Taine, seine Assistentin und Reischenbach sanken in ihre Stühle zurück. Einen solchen Zeugen erlebte man nicht alle Tage.
»Und was mein Alibi anlangt«, fuhr der Forscher mit der gleichen Überheblichkeit fort, »sage ich Ihnen gleich, dass ich keins habe. Ich habe in meiner Wohnung auf Nelly gewartet. Allein. Sie hatte mir mitgeteilt, dass sie bis spätabends arbeiten würde.«
»Hatte sie eine Verabredung?«
»Sie hat mir nichts gesagt.«
»Waren Sie denn nicht beunruhigt, als sie nicht kam?«
»Manchmal arbeitete sie bis zum Morgen. Das ist einer der Gründe dafür, dass ich sie liebte und bewunderte.«
Jeanne betrachtete den Mann einige Sekunden lang. Dann glaubte sie zu verstehen, was für ein Mensch er im Innersten war. Die Ruhe, die er ausstrahlte, deutete auf eine ungewöhnliche spirituelle Kraft hin. Der Tod Nellys ließ ihn nicht kalt. Im Gegenteil. Sie hatte sich tief in sein Gedächtnis eingegraben. Ein Epitaph in Marmor. Nach innen gewendet.
Taine erhob sich abrupt von seinem Stuhl.
»Ich danke Ihnen, Dr. Pavois. Ich möchte Sie bitten, in einigen Tagen in meinem Büro beim Landgericht Nanterre vorbeizukommen.«
»Wollen Sie noch weitere Auskünfte von mir?«
»Nein. Sie unterschreiben Ihre Aussage, das ist alles. In der Zwischenzeit wird Kommissar Reischenbach einige Dinge überprüfen.«
»Etwa die Tatsache, dass ich kein Alibi habe?«
»Zum Beispiel.«
»Ich habe eine letzte Frage«, sagte Jeanne, während sie ihrerseits aufstand.
Taines Assistentin warf ihrem Chef einen fragenden Blick zu: Sollte sie auch diese Einlassung zu Protokoll nehmen oder nicht? Sie stand bereits und hatte den Block in ihrer Aktentasche verstaut. Der Richter schüttelte den Kopf.
»Werden Karyogramme auch in anderen Situationen erstellt? Etwa bei Erwachsenen?«
»Ja, anhand von Blutproben. In diesen Fällen suchen wir nach genetischen Ursachen von Unfruchtbarkeit.«
»Kann man Unfruchtbarkeit mit Hilfe von Karyogrammen nachweisen?«
»Ja, gewisse Chromosomenanomalien können die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen. Außerdem können wir die Diagnose von Entwicklungsstörungen bei Kindern genetisch absichern. Lernschwierigkeiten zum Beispiel. Wir analysieren den Karyotyp und können der Erkrankung des Kindes manchmal einen Namen geben.«
Jeanne musste wieder an ihre ursprüngliche Idee denken. Eine sterile Frau, deren Karyogramm bei Pavois erstellt worden war. Eine psychisch gestörte Person, die sich an der Firma rächen und sich gleichzeitig die Fruchtbarkeit von Nelly Barjac aneignen wollte, indem sie Teile ihres Körpers verzehrte. Aber wie passte das zu dem ersten Opfer, der Krankenschwester, und der gewaltigen Körperkraft des Mörders?
Als Pavois aufstand, bestätigte sich das, was man schon zuvor ahnen konnte: Der Mann war ein wahrer Koloss. Er trug ein unförmiges grellgrünes T-Shirt mit der Aufschrift »NO LOGO« und eine beige Leinenhose. Sein schlaffer, feister Körper erinnerte an eine riesige Birne.
»Ich bin kein Experte«, meinte er in amüsiertem Ton, »aber diese Gräueltat geht wohl auf das Konto eines Serienmörders, oder? Man sieht es ständig im Fernsehen. Da sollte man sich nicht wundern, wenn es in der Realität geschieht.«
Niemand antwortete. Die Wahrheit ließ
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